Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
ihn zurückhalten, er aber schüttelte sie ab, setzte das Barett auf und öffnete den schweren Holzflügel der Tür.
Auf dem Mühlenberg herrschte wilder Aufruhr. Kopflos rannten Menschen umher, die einen mit Ledereimern in der Hand, andere mit Fackeln, wieder andere mit Leitern und Schaufeln. Karren mit leeren Fässern wurden den Berg hinuntergeschoben, von Eseln und Ochsen gezogene leere Wagen kamen den Berg herauf. Anscheinend wusste kaum jemand, wohin es genau gehen sollte. Das Einzige, was sicher schien, war: Auf dem Schloss brannte es nicht. Wachleute kamen von dort herübergelaufen, fuchtelten wild drohend mit den Piken durch die Luft und versuchten die Ordnung auf der Straße wiederherzustellen. Harsche Befehle wurden erteilt, Widerworte gegeben. Jemand stimmte ein Vaterunser an, einige fielen ein, andere begannen ein Ave-Maria, bis jemand wütend schrie: »Hört auf mit dem törichten Pfaffengesang!«
Dora vergaß, dass sie lediglich mit einem Nachthemd bekleidet war, und lief weiter in die Straße hinein. Von Urban fand sich keine Spur mehr. Sie konnte nicht einmal sagen, ob er wirklich zur nahen Schlossbrücke gelaufen war. Viel zu viele Menschen drängten sich um sie, einige vollständig bekleidet, andere im Nachtgewand wie sie. Ratlos schauten sie umher, keiner wusste mit Bestimmtheit, in welcher Richtung die Ursache für den Aufruhr zu suchen war, bis jemand entsetzt aufschrie: »Der Dom! Der Dom brennt!«
Wie auf Befehl wandten sich alle nach Süden. Tatsächlich! Über den Dächern und Zinnen der Altstadt loderte der Nachthimmel gelbrot auf. Dort, wo sonst die beiden mächtigen Türme des trutzigen Kneiphofer Kirchenbaus in den Himmel ragten, schlugen Funken und Flammen wild in die Luft. Plötzlich wurde es totenstill. »Gott, der Allmächtige, steh uns bei!« Die Menschen schlugen ein Kreuz vor der Brust. Von neuem erhob sich eine Stimme, die das Vaterunser sprach. Dieses Mal stimmten alle andächtig mit ein.
Der Vater! Lienhart! Jörg! Doras Herz raste. Ihre Familie war im Kneiphof, nur wenige Schritte vom Dom entfernt. Sie musste zu ihnen! Als sie losrennen wollte, packte sie jemand am Arm.
»Nein!«, rief Mathilda. »So könnt Ihr nicht fort. Kommt nach Hause. Euer Gemahl erlaubt es nicht.«
»Schaut nur!« Verzweifelt versuchte Dora sich ihr zu entreißen. »Der Kneiphof brennt! Meine Brüder und mein Vater sind dort. Ich muss zu ihnen. Ich muss ihnen beistehen.«
»Wie denn? Im Nachtgewand und mit bloßen Füßen? Sich zu retten schaffen die drei besser ohne Euch. Anscheinend sind die Tore der Altstadt verschlossen. Niemand kommt aus der Altstadt heraus, geschweige denn vom Kneiphof zu uns herein. Wie wollt da ausgerechnet Ihr auf die Dominsel gelangen? Kräftige Männer mit großen Eimern und starken Armen sind dort nötiger als schwache Frauen wie wir.«
Als gälte es, ihre Worte zu bestätigen, ging im selben Moment ein Ruck durch die Menschenmenge. »Zur Brücke!« – »Öffnet die Tore!« – »Auf, auf!« – »Hört ihr die Schreie? Worauf wartet ihr?«
Schon setzte sich der Zug der Menschen den Mühlenberg hinunter in Bewegung. Unsanft wurden Dora und Mathilda herumgeschoben, auseinandergerissen, zur Seite gedrängt. Nur mit Mühe gelang es Dora, sich zum Hauseingang zu kämpfen und in die Diele zu schlüpfen. Mathilda hatte sie völlig aus den Augen verloren.
Auf einmal spürte sie, wie ihr die Kehle eng wurde, wie stark es sie in der Brust schmerzte. Es war ihr, als fühlte sie das Feuer am eigenen Leib, den beißenden Rauch von brennendem Holz und die Staubwolke von einstürzendem Mauerwerk einatmen. Wieder ertönte draußen schrilles Geschrei. Vorsichtig spähte sie hinaus. Der Wind frischte von Osten her auf und fachte das Feuer auf der Kneiphofinsel noch kräftiger an. Hell loderte es in den Nachthimmel, verwandelte sich in eine riesige Feuerwand, die erbarmungslos über Dom und Häuser hinwegfegte. Ein entsetzliches Knattern und Knistern hob an. Eiskalt lief es Dora den Rücken hinunter. Nie mehr würde sie dieses böse Geräusch je vergessen. Das Gestühl des Kirchenschiffs war plötzlich ein entblößtes schwarzes Skelett mit rotglühenden Querbalken, kurz davor, zu Asche zu zerfallen. Schauerliches Gebrüll erklang, als das Holzgerüst des nördlichen Kirchturms ein letztes Mal kräftig aufloderte, um dann unter mächtigem Getöse zusammenzustürzen. Ein grollendes Donnern folgte, die Erde zitterte. Auch die beiden Glocken krachten mitsamt den Mauern zu Boden.
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