Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
Backsteinkirche mit schlankem, hohem Turm und einem nach Osten hin auffälligen Stufengiebel duckten sich eine unüberschaubare Zahl größerer und kleinerer Häuser, manche aus Stein und mit ordentlichen Ziegeldächern, andere aus Lehm und lediglich mit Stroh gedeckt. Ein mannshoher Palisadenzaun umgrenzte den Ort. Anders als viele andere Städte im Herzogtum, die ebenfalls auf die Zeit der Kreuzherren zurückgingen, war Tapiau trotz der Bedeutung der Burg als Sitz einer Komturei und Stützpunkt der Kreuzherren nach Litauen niemals als Ordensstadt planvoll angelegt worden. So hatten die Truppen des aufständischen preußischen Bundes vor knapp einhundert Jahren die ungeschützte Lischke leicht überrennen und die Ordensburg direkt angreifen können. Ein schreckliches Scharmützel hatte es seinerzeit gegeben, wie Dora in alten Chroniken gelesen hatte. In der herzoglichen Bibliothek wurde eine Vielzahl von ihnen aufbewahrt. Längst hatte Dora sie allesamt eifrig studiert. Fünfzig Tote und viele Gefangene waren in jenem Kampf zu beklagen gewesen. Dann erst hatten sich die Aufständischen geschlagen gegeben und wieder nach Wehlau und Rastenburg zurückgezogen. Binnen kürzester Zeit war der Ort wieder hergerichtet worden, die Burg bis zum jetzigen Tag einer der wichtigen Stützpunkte des Herzogtums nach Nordosten geblieben. Seit langem blühte der Handel, hatte die blutigen Kämpfe mit den einst wilden Nachbarn abgelöst. Zweimal im Jahr wurden Jahrmärkte abgehalten, die längst außer den Hökern der direkten Umgebung auch Reisende aus weit entlegeneren Gegenden anzogen. Selbst aus den drei Städten Königsbergs kamen Kaufleute den Pregel hinauf, um ihre Waren dort feilzubieten. Litauen war nach wie vor nicht weit, ebenso verliefen Handelsstraßen ins nördliche Memeldelta sowie bis weit hinauf nach Norden, wo irgendwann das riesige russische Reich begann.
Dora lehnte den Kopf gegen die weißgekalkte Wand. Gern erinnerte sie sich ihrer eigenen Besuche auf den Jahrmärkten, bei denen sie im letzten und vorletzten Sommer mit einer seltsamen Kräuterfrau zusammengetroffen war. Die hatte eine eigenartige Sprache gesprochen und stammte wohl aus den tiefsten Wäldern Litauens. Urban hatte den Kontakt nicht gutgeheißen und ihr verboten, die frisch erworbenen Heilpflanzen mit nach Hause zu nehmen. Eine Handvoll getrockneter Zweige aber hatte sie dennoch vor ihm verbergen und in ihre Werkstatt am Mühlenberg schmuggeln können. Zwischen den hinteren Seiten von Laurenz Seleges Werkmeisterbuch hatte sie die Stengel gepresst. Eines Tages taten die Heilkräfte der Kräuter ihr vielleicht noch einen guten Dienst. Das entlockte ihr ein seliges Schmunzeln.
»Wie schön, mein Augenstern, dich trotz des Dauerregens bester Dinge zu sehen.« Ohne anzuklopfen, war Urban in ihr Gemach getreten. In wenigen Schritten stand er bei ihr. Trotz ihrer guten Vorsätze fiel es ihr schwer, seinen Blick unbefangen zu erwidern. Noch war es ihr nicht gelungen, den schweren Verdacht, den er seit dem unglückseligen Zusammentreffen in der Werkstatt hegte, aus dem Weg zu räumen. Auf dem gesamten Ritt von der Königsberger Altstadt nach Tapiau hatte er nur das Nötigste mit ihr gesprochen. Seit ihrer Ankunft ging er ihr weitgehend aus dem Weg, was selbst dem Gehilfen sowie den beiden Wachleuten bereits auffiel, wie ihr Tuscheln verriet. Auch jetzt schaute Urban sie streng an. Um seine blassblauen Augen waren neue Faltenkränze aufgesprungen, dick waren die Tränensäcke angeschwollen. Die lange, schmale Nase ragte spitzer denn je aus seinem Gesicht, die Wangen waren eingefallen und ebenso blass, wie die Lippen blutleer waren. Kein Zweifel, es ging ihm nicht gut. Doch all ihr Bemühen, ihrer tiefen Sorge Ausdruck zu verleihen und ihm Linderung zu verschaffen, lehnte er ab. Umso mehr verwunderte sie nun sein unerwartetes Auftauchen in dem winzigen Gemach, das ihr seit ihrer Ankunft als Schlaf- und Aufenthaltsort diente und das er bislang noch nicht betreten hatte.
»Was lest Ihr da? Ausnahmsweise einmal nicht das Werkmeisterbuch Eures Ahns?« Neugierig deutete er auf das Buch, das sie aufgeschlagen auf ihren Knien balancierte. Sie reichte es ihm. »›Ein kurzweilig Lesen von Till Eulenspiegel‹«, las er halblaut. Sogleich hellte sich seine Miene auf. »Ich erinnere mich sehr gut an die lustigen Historien. Der Bursche weiß in der Tat, seine Mitmenschen wörtlich zu nehmen. Darüber lässt sich sogar das schlechte Wetter vergessen.«
Bereits eine
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