Die Liebe des Kartographen: Roman
Familie? War etwa der Vater für Jaquesâ mürrisches Wesen, seine ewigen Flüche verantwortlich? Nun, durch seine Reisen konnte er ihm zumindest für lange Zeit entrinnen. Unvermittelt musste Xelia zum ersten Mal seit vielen Tagen wieder an ihre Schwestern denken. Anna mit ihrem buckligen Kreuz, und Sybille, die immer so verschreckt dreinschaute wie eine Maus, würden Feltlin nie entkommen. So froh sie war, der Gerberei für immer entronnen zu sein, so sehr schmerzte sie der Gedanke an ihre Schwestern, die zurückbleiben mussten. Wahrscheinlich hatte Adalbert recht, wenn er behauptete, es gäbe keine Gerechtigkeit! Aber bürdete dieses Wissen ihr nicht eine ganz besondere Last auf? Was hatte er vorhin gesagt? Ich versuche, aus allem das Beste zu machen. War es nicht auch ihre Pflicht, im Namen ihrer Schwestern und auch Samuels, der wegen ihr so jämmerlich sterben musste, etwas wieder gutzumachen? Nur â wie konnte sie dafür sorgen, dass die Waagschale mit dem Guten darin tiefer hing als die Schale mit ihren Sünden?
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D ie Tage verflogen wie Federn im Wind: Für die Strecke hätten sie zu Fuà mindestens zweieinhalb Wochen benötigt, dank Jaques brauchten sie gerade einmal fünf Tage. Auch das Wetter trug seinen Teil zu ihrem raschen Vorwärtskommen bei: Nicht eine Schneeflocke fiel vom Himmel, kein Nebel behinderte ihre Sicht, keine eisigen Flächen machten die Tritte der Pferde unsicher â Philip war so viel Glück fast schon unheimlich.
Frühmorgens, noch vor dem Hellwerden, bestiegen sie den Wagen, fuhren den ganzen Tag über und machten höchstens eine Rast, wenn Jaques die Pferde tränken und ihnen eine Mischung aus Getreide, Honig und Kräutern geben wollte. Als die Landschaft immer hügeliger und teilweise auch schon recht steil geworden war, machte er seinen Leitspruch wahr und lieà seine Mitreisenden immer öfter bergaufwärts neben dem Wagen herlaufen. Weder Philip noch Xelia sahen darin eine Mühsal, die Bewegung tat ihnen nach der ewigen Sitzerei sogar gut. Nur Adalbert hatte seine Mühe. Doch Jaques machte auch bei dem Ãlteren keine Ausnahme, das Wohlbefinden seiner Pferde â keines hatte bisher weder ein lahmes Bein, ein geschwollenes Gelenk noch andere Ermüdungserscheinungen â war ihm wichtiger als Adalberts.
Nachdem sie in Memmingen die Postroute verlassen hatten, übernachteten sie in Gasthöfen, die Jaques aussuchte. Philip vermutete, dass die Gesichtspunkte, unter denen der Kaufmann seine Quartiere bezog, weniger mit dem eigenen Komfort zu tun hatten als mit der Qualität des Pferdestalles! Doch schon nach dem ersten Tag war es Philip gleich gewesen, wo er nachts seinen Kopf niederlegte. Die langen Stunden im Pferdewagen waren so ermüdend,dass er abends in einen totenähnlichen Zustand fiel, sobald sein Kopf den Boden berührte. Und solange Xelia sich unter ihrem Hut und Mantel als Knecht ausgeben musste, war an ein Beisammensein mit ihr nicht zu denken. Zähneknirschend verschob er deshalb seine Gelüste auf die Zeit nach ihrer Ankunft in Meran und malte sich aus, wie es sich dann wohl zwischen Xelias Beinen anfühlen würde.
Am Brenner angekommen, stellten Jaques und Philip fest, dass sie auch das nächste Wegstück â nach Sterzing â gemeinsam hatten, und so nahm Jaques sie schlieÃlich bis dorthin mit.
Der Ort war für Philip eine Ãberraschung. Er hatte mit einem verschlafenen Dorfgerechnet und sich gesorgt, ob sie dort überhaupt etwas zu essen kaufen konnten. Doch Sterzing war nicht nur von einer äuÃerst imposanten Stadtmauer umgeben, sondern wies eine Vielzahl prächtiger Gebäude auf, von denen jedes Zweite drauÃen ein Wirtshausschild hängen hatte. In den engen Gassen wimmelte es nur so vor FuÃgängern, wobei Philip auffiel, dass darunter kaum Weiber zu finden waren. Auch Fuhrwerke waren reichlich unterwegs, und Jaques musste mehr als einmal zur Seite ausweichen, um hochbeladenen Gegenverkehr durchzulassen.
Der Reichtum der Stadt hätte mehrerlei Gründe, klärte Jaques ihn auf. Da gab es einerseits ein jahrhundertealtes Gesetz, das Reisenden verbot, auf den Höhenwegen an der Stadt vorbeizuziehen. Das hieÃ, jeder, der an Sterzing vorbei wollte, musste hier Rast machen und ein paar Heller oder Taler für Speis und Trank und auch Ãbernachtung ausgeben. Daher die vielen Wirtshäuser und
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