Die Liebe des Kartographen: Roman
verschlug es schon auf die Alb? Jeder Reisende in Richtung Süden war froh, die karge Landschaft hinter sich lassen zu können, und viele Heimkehrer aus südlichen Ländern umgingen die Bergkette ganz und legten ihre Reiseroute weiter westlich aus. Auch Philip war nicht gerade erpicht auf die Wochen, die nun vor ihm lagen. Dort droben lagen die Dörfer wesentlich weiter auseinander als beispielsweise in der Reutlinger Gegend. Man konnte froh sein, innerhalb eines Tagesmarsches überhaupt durch eine Siedlung zu kommen. Das bedeutete auch, dass er weniger Leute treffen würde, die ihm Informationen für seine Karten liefern konnten. Er würde auf sich selbst angewiesen sein. Aber lag nicht darin ein besonderer Reiz?
Philip schulterte seine Taschen und verlieà die enge Kammer. Hätte er ein gemütliches Dasein bevorzugt, wäre er Städtemaler geworden und nicht herzöglicher Landschaftskartograph! Sein Schritt hallte durch die langen Gänge des Klosters. Plötzlich konnte er es kaum erwarten, wieder drauÃen zu sein und mit der Arbeit zu beginnen. Wenn er mit seinen Vermessungsarbeiten gut vorankam und wenn die Spätsommerhitze ihm nicht allzu viel Kraft raubte, würde er das nächste Dorf vielleicht schon in fünf Tagen erreichen. Wie hieà es auch noch? Er warf einen Blick in seine Unterlagen. Der unbekannte Verfasser der Karte hatte den Namen mit einer Blütenranke blau eingerahmt: Leinstetten.
~ 14 ~
W as Xelia am meisten quälte, war der Hunger. Wenn sie morgens aufwachte, war das Grollen in ihrem Bauch bereits da. Und wenn sie sich abends zum Schlafen zusammenrollte, war es ebenfalls da. Sie versuchte, mit allem Möglichen ihren Hunger zu stillen: mit frisch gepflückten Kräutern, Pilzen und sogar mit Baumrinde, die sie so lange durchkaute, bis sie einigermaÃen verdaulich wurde. Xelia dankte dem Himmel dafür, dass sie ihr kleines Messer eingepackt hatte, als sie die Gerberei verlieÃ, um mit Samuel zu gehen. Ohne das Messer hätte sie weder nach Essbarem graben, noch hölzerne Wurzeln zurechtschnitzen können. In einer ausgehöhlten Wurzelschale holte sie nachts, wenn sie sich einigermaÃen sicher fühlte, Wasser vom Bach. Tagsüber traute sie sich nicht weit genug von ihrer Höhle weg, um Beeren zu pflücken, die am Waldrand an stacheligen Büschen wuchsen. Und sonst gab es um diese Jahreszeit im Wald nicht viel Verzehrbares, zumindest nicht für Menschen.
Allmorgendlich war ihr erster Gedanke: »Du musst endlich weg von hier!« Trotzdem harrte sie drei Tage nach dem Unglück immer noch in der Höhle aus. Wenn sie nicht gerade nach Essbarem suchte, kroch sie auf allen vieren durch den Wald bis zu einem etwas höher gelegenen Aussichtspunkt, um das Dorf zu beobachten. Jeden Tag beendeten die Bauern ein Stückchen Arbeit mehr auf den Feldern. Die Leinernte war vorbei, die Rübenernte auch beinahe, und die meisten Obstbäume waren schon abgeerntet. Bald würden die Leinstettener keinen Grund mehr haben, nach drauÃen zu gehen, sondern sich Arbeiten in Haus und Hof widmen. Xelia wusste, dass sie längst hätte weg sein müssen, so viele Meilen wie möglich zwischen sich und Leinstetten hätte bringen müssen. Stattdessen verharrte sie direkt vor den Augen der Dorfbewohner und hoffte jeden Tag darauf, dass irgendwo ihre Schwestern auftauchten. Einmal noch wollte sie die beiden sehen. Was sie dann tun würde, wusste sie nicht. Würde sie versuchen, zu ihnen zu gelangen, sie auf sich aufmerksam zu machen? Mit ihnen reden und ihnen erklären, was wirklich geschehen war in jener Nacht? Xelia verlieà sich darauf, im entscheidenden Moment zu wissen, was das Richtige war.
Doch weder Anna oder Sybille waren jemals auÃerhalb des Dorfes zu erblicken. Wahrscheinlich lieà der Gerber sie nicht mehr aus den Augen. Und so schwand langsam Xelias Hoffnung, durch Anna â auf Sybille zählte sie so wieso nicht â Hilfe zu bekommen. Etwas zum Essen für ihre Flucht hätte sie ihr zustecken können oder eine Decke besorgen, oder vielleicht auch andere praktische Dinge. Aber es sollte wohl nicht sein. Wenn sie überleben wollte, musste sie sich selbst helfen, so einfach war das.
Xelia grübelte immer wieder aufs Neue. Hier in diesem Erdloch konnte sie nicht bleiben, so viel war klar. Aber â welche Möglichkeiten hatte sie sonst? Es waren nicht viele, die ihr
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