Die Liebe des Kartographen: Roman
sie.
Ich will nicht sterben! Ich habe doch noch gar nicht gelebt! Xelia wandte sich vorsichtig um. Hatte sie gerufen? Hatte jemand sie gehört, oder waren die Gedanken in ihrem Kopf so laut, als hätte sie sie ausgesprochen?
Auf einmal hatte sie keine Zeit mehr zu verlieren. Sie wollte nicht sterben. Das war der einzige klare Gedanke, zu dem sie fähig war. Doch er reichte aus, um ihren Körper in Bewegung zu setzen. Auf allen vieren kroch sie über den Waldboden, nur einmal hielt sie kurz inne, um ihren Rock seitlich zu verknoten, damit sie nicht dauernd überihn stolperte. Auch ihre Haare, die sich beim Kampf mit Feltlin gelöst hatten, fasste sie hinten zusammen und verknotete sie wie einen Strang Flachs. Dann atmete sie tief durch.
Die Stimmen hatten sich entfernt. Zu sehen war auch niemand mehr. Wahrscheinlich suchten die Männer schon einen anderen Teil des Waldes nach Samuels vermeintlichem Mörder ab. Oder sie waren wieder nach Hause gegangen. Hier im Wald war den wenigsten wohl, das wusste Xelia. Andererseits konnten die Leinstettener sich schwer drücken, wenn es darum ging, den oder die Mörder von Blausteins Sohn zu finden. Wer dem Tuchhändler heute zur Seite stand, den würde er wahrscheinlich nicht vergessen. Doch wer bei der Hatz nicht mitmachte, aus Angst vor dem Wald oder weil er Besseres zu tun hatte â den würde Blaustein ebenfalls nicht vergessen.
Xelia war völlig erschöpft. Aber eines wusste sie: Solange die Männer nach ihr suchten, musste sie sich verstecken, und einen passenden Ort dafür kannte sie auch. Ihre Kräuterhöhle. Im vergangenen Winter hatte sie sie durch Zufall entdeckt. Sie lag verdeckt hinter einem Hügel und war gerade so groÃ, dass Xelia hinein- und wieder hinauskrabbeln konnte. Der Einschlupf war so zugewachsen, dass jemand schon einen besonderen Grund haben musste, um ihn dort zu entdecken. Xelia hatte eine Flechte ausgraben wollen, die als Tee gekocht gegen Knochenschmerzen half, und hatte dabei den Eingang zur Höhle entdeckt. Ihre Wände waren glatt und so hoch, dass sie darin knien konnte. Zwei ausgedörrte Holzbalken waren am hinteren Ende als Stützen angebracht. Sie musste also von Menschenhand gegraben worden sein. Xelia vermutete, dass sie irgendwann einmal jemandem aus dem Dorf als geheimes Versteck für Getreide gedient haben musste.
Die Höhle war noch so, wie Xelia sie bei ihrem letzten Besuch verlassen hatte. Der lag schon eine Weile zurück, da sie sich in letzter Zeit lieber mit Samuel getroffen hatte,statt sich um ihre Kräutervorräte zu kümmern. Die Höhle war zwar klein, aber trocken. Auch die Kräuter waren noch da und wohlbehalten, nicht angenagt oder verdorben, sondern getrocknet, wie es sich gehörte. Xelia kroch hinein und hockte sich mit angewinkelten Beinen hin. Lange konnte sie so nicht sitzen bleiben, das wusste sie. Sobald die Männer den Wald verlassen hatten, würde sie fliehen. Aber im Augenblick war sie nur froh, hier zu sein.
Sie atmete tief durch und genoss das kleine Gefühl von Sicherheit, das die erdenen Wände ihr bereiteten.
Doch schon bald begann sich ihr Leib wieder zusammenzukrampfen, und sie musste sich ihren Bauch halten vor lauter Schmerzen.
Warum?
Wie ein hungriger Wolf fraà sich diese Frage in sie hinein, riss ganze Fetzen aus ihrem Leib, bis alles in ihr brannte wie Feuer.
Warum hatte Samuel sie verlassen? Warum?
Damit meinte sie nicht seinen Tod, sondern seine Entscheidung zuvor. Das war es, was sie nicht verkraften konnte. Hätte Samuel zu ihr gehalten und der Gerber hätte sie zusammen erwischt und Samuel aus lauter Hass erschlagen, dann hätte sie wenigstens etwas gehabt, woran sie sich in Gedanken hätte klammern können. So blieb ihr nichts mehr. Alles war sinnlos gewesen, all ihre Heimlichkeiten, ihre Lügen, ihre Hoffnungen.
Mit dieser Erkenntnis überkam sie plötzlich eine unbändige Wut, die ihre Trauer um den Toten auslöschte, bis nichts mehr davon übrig war.
Irgendwann hielt sie es in ihrer geduckten Stellung nicht mehr aus. Xelia rappelte sich auf und kroch vor die Höhle. »Verdammt noch mal!« Sie richtete sich auf und trommelte mit bloÃen Händen gegen den Stamm des nächstbesten Baumes. Immer wieder brüllte sie ihre Wut heraus. Ob sie jemand hören konnte oder nicht, daran dachte sie längst nicht mehr.
Xelia hatte immer angenommen, dass sie mit allem im
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