Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebe des Wanderchirurgen

Die Liebe des Wanderchirurgen

Titel: Die Liebe des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
Vom Netzwerk:
Tageszeit entboten hatte: »Kannst du mir sagen, ob die Armada hier schon vorbeigekommen ist?«
    »Die Armada?«, krächzte der Alte. »Ja, warum nicht!«
    Hartford merkte, dass er nicht verstanden worden war, deshalb wiederholte er seine Frage um einiges lauter.
    »Ja, ja!«, rief der Alte. »Sie soll vorbei sein. Ich muss es wissen, weil ich jeden Tag hier bin.«
    Letztere Information interessierte Hartford wenig. »Wann war das denn?«, brüllte er.
    »Schrei doch nicht so, mein Sohn, ich bin nicht schwerhörig! Sie ist hier vorbeigekommen, die Armada, zwei Tage mag es her sein, vielleicht auch drei, in meinem Alter achtet man nicht mehr so auf die Zeit. Ich selbst hab die Dons nicht gesehen, aber eine Flotte, die zwanzig Meilen draußen im Kanal vorbeikreuzt, kannst du von hier sowieso nicht sehen. Ich weiß es von einem Fischer. Teddy Dunn aus Southwick, netter Kerl. Kennst du ihn?«
    »Nein«, sagte Hartford.
    »Was sagst du?«
    »Nein!«, brüllte Hartford.
    »Schrei doch nicht so. Ich hab dich schon verstanden. Schade, dass du Teddy nicht kennst. Es gibt auf der Welt viel zu wenig nette Menschen. Aber du bist auch nett, das seh ich dir an. Willst du mir ein Stück Bernstein abkaufen? Ich sammle Bernstein, musst du wissen. Am besten sammelt es sich nach einem Sturm, aber diesmal sammle ich vorher. Man muss alles mal versuchen, sag ich immer. Guck hier, in meinem Beutel sind einige schöne Brocken. Die sind noch von zu Hause. Ich nehm immer einen besonders seltenen Brocken mit, vielleicht einen mit ’nem Käfer drin oder so, und schmeiß ihn weit weg. Dabei ruf ich ›Bruder, suche deinen Bruder!‹, und was soll ich dir sagen, häufig klappt’s, und ich finde was Neues. Willst du nun ein Stück Bernstein kaufen oder nicht? Ich mach dir auch ’nen Sonderpreis, weil du es bist.«
    Hartford war kaum gewillt, dem redseligen Alten etwas abzukaufen, aber er hatte noch eine Frage an ihn, und deshalb tat er es doch. Danach rief er: »Gibt es hier einen Aussichtspunkt?«
    »Was für’n Punkt?«
    »Ich meine eine Stelle, von der man einen besonders schönen Blick hat!«
    »Das lass man lieber, mein Sohn, heut siehst du nix.«
    »Ich meine auch nicht heute, ich meine allgemein!«
    »Allgemein?«
    »Ich meine, wenn das Wetter schön ist, wo hat man dann einen besonders schönen Blick über den Kanal?«
    »Ach so, warum sagst du das nicht gleich?
Mary’s Stool,
verstehst du? Das ist die richtige Stelle zum Gucken. Mary ging seinerzeit immer mit ’nem kleinen Schemel hin und setzte sich drauf und wartete auf ihren Liebsten. Aber der ist auf See geblieben.«
    »Wann war das denn?« Hartford heuchelte Interesse.
    »Tom hieß der, glaube ich.«
    »Wann das war!«
    »So vor zweihundert Jahren, manche sagen auch, es läg noch länger zurück.«
    »Aha!«, brüllte Hartford. »Und in welche Richtung muss ich zu
Mary’s Stool
reiten?«
    »Halte dich nach Westen, mein Sohn, ’ne halbe Meile, dann bist du da.«
    »Danke.« Hartford gab seinem Wallach die Sporen und war nach kurzer Zeit an dem beschriebenen Ort. Bei schönem Wetter, das musste man dem Alten lassen, mochte die Aussicht hier prachtvoll sein. Die Steilküste sprang ein wenig vor und schuf auf diese Weise einen kleinen Platz, auf dem man bequem verweilen konnte.
    Hartford ritt vorsichtig weiter und spähte über den Rand.
    Es ging sehr tief hinunter.

[home]
    Die Intrigantin Isabella
    »Jesus und Maria, was machst du denn für ein Gesicht, Liebster? Ist irgendetwas passiert?«
    E in grauer, windiger Tag zog über Calais herauf und warf sein Licht auf die Schrecken der vergangenen Nacht. Doch viel war es nicht, was geblieben war: ein paar herumtreibende Schiffstrümmer, ein zerfetztes, rußiges Segel, gebrochene Riemen und ein kieloben schwimmendes Übersetzboot. Mehr war auf den kabbeligen Wellen nicht zu entdecken. Die
Grande y Felicisima Armada
hatte sich in alle Winde zerstreut.
    Der Halbmond war zerbrochen.
    Einzig die riesige
São Martinho,
das Flaggschiff des Herzogs von Medina Sidonia, und vier weitere Einheiten hatten nicht die Flucht ergriffen und lagen noch auf Reede. Ein weiteres Schiff, die Galeasse
San Lorenzo,
hatte ein zerstörtes Ruder und war nicht mehr kampftauglich.
    Lordadmiral Howard, dessen Flotte neu munitioniert und durch das Themse-Geschwader von Lord Seymour verstärkt worden war, beschloss, alles auf eine Karte zu setzen. Die Spanier hatten in der vergangenen Feuernacht mindestens drei oder vier Schiffe verloren, und es galt nun, die

Weitere Kostenlose Bücher