Die Liebe des Wanderchirurgen
wollte ihr sagen, dass sie wieder gesund würde, dass alles wieder gut würde, aber angesichts der tödlichen Verletzung war ihm die Kehle wie zugeschnürt. Er ergriff ihre schlaffe Hand und sah, dass Ninas Ring an einem der Finger steckte, aber auch das war jetzt egal. Er streichelte sie.
Ihre Augen waren halb geöffnet. Sie versuchte ein Lächeln. Der von ihm applizierte künstliche Schneidezahn saß nach wie vor perfekt. Welch ein Hohn!
Was konnte er sagen, wie konnte er sie trösten, womit konnte er ihr Mut zusprechen? »Isabella, möchtest du beten?«
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Dios castiga … sin piedra ni palo.«
«Ich glaube nicht, dass Gott dich strafen wollte.«
Ihr Lächeln erstarb.
»Sin importancia«,
wisperte sie. »Ich liebe dich.«
Er schwieg. Doch in ihren Augen las er die Aufforderung: Bitte sag es mir auch, sag es nur ein einziges Mal,
sag mir, ich liebe dich!
»Ich … liebe dich«, flüsterte er, und er hatte dabei nicht einmal das Gefühl, zu lügen.
»Dann ist es gut, dann ist es …« Ihre Augen brachen. Plötzlich wich alle Anspannung aus ihrem Gesicht, ein Ausdruck des Friedens und der Harmonie breiteten sich darauf aus. Der Kampf ihres Lebens war vorbei. Sie hatte ihn verloren – und sie hatte ihn doch gewonnen, denn sie hatte sein Herz erobert.
Durch ihre letzte, unwiederholbare Tat.
»Schlechte Nachrichten, Vitus«, sagte Don Pedro noch am gleichen Abend im Behandlungsraum. Er musste die wenigen Worte fast brüllen, denn der Sturm hatte sich zum Orkan ausgeweitet, und selbst unter Deck waren das Heulen des Windes und das Krachen der Brecher die einzigen Geräusche.
»Was gibt es?« Vitus stand noch immer unter dem alles beherrschenden Eindruck von Isabellas Tod.
»Abbot, der Erste Offizier und Segelmeister, ist schwer verwundet worden. Wir alle haben es nicht bemerkt, es muss in den letzten Minuten des Gefechts passiert sein.«
Vitus nickte schwer. »Genau wie bei Isabella. Sie ist tot.«
Don Pedro riss die olivenfarbenen Augen auf, sagte aber nichts. Er wusste, dass jedes Wort fehl am Platze gewesen wäre. Stattdessen ergriff er Vitus’ Hand und drückte sie.
Vitus räusperte sich, um den Kloß in seinem Hals loszuwerden. »Wie schlimm ist es?«
»Bauchschuss. Ich fürchte, seine Chancen stehen nicht gut.«
»Ich schaue ihn mir an.« Vitus ging zu der Kammer, in der Abbot mit einigen Leidensgenossen lag, und untersuchte die Einschussstelle. Es sah wirklich nicht gut aus. Die Kugel hatte die Kleidung durchschlagen, war in den Unterleib eingedrungen und im Rückgrat stecken geblieben. Ärztliche Kunst war hier machtlos. Das Einzige, was getan werden konnte, war, dem Verletzten die Schmerzen zu nehmen und zu hoffen, dass ihn ein baldiger Tod erlösen möge. So wie es bei Isabella der Fall gewesen war …
Abbot war nicht ansprechbar, und Vitus sagte: »Wenn er zu sich kommt, geben wir ihm
Laudanum,
du oder ich, je nachdem, wer gerade bei ihm ist.«
Don Pedro nickte. »Wie viel?«
»Gerade so viel, wie er braucht. Wir müssen mit dem
Laudanum
haushalten.« Vitus zeigte die Menge.
Danach gingen sie zu den anderen Verwundeten, wobei sich herausstellte, dass wenigstens zwei Lichtblicke in der Düsternis zu verzeichnen waren: Chock, der bewährte
Falcon,
hatte nur einen harmlosen Streifschuss erhalten, der allerdings stark genug gewesen war, ihn herumzureißen und zu Boden zu strecken, und Creedy, der Decksoffizier der
Moon,
hatte die Ruhr so weit überwunden, dass er sich bei McQuarrie zum Dienst melden konnte.
Die anderen Verwundeten – es waren über ein Dutzend – hatten die unterschiedlichsten Brüche und Verletzungen, wobei zweien der Unglücklichen eine Beinamputation nicht erpart werden konnte.
Vitus und Don Pedro arbeiteten die ganze Nacht tief unten im Bauch der
Camborne,
geschüttelt, gestoßen und hin und her geschleudert von den gewaltigen Käften des Orkans, doch sie gaben nicht auf, und am Morgen des 5 . August war auch der letzte Kranke, so gut es ging, versorgt.
Mehr tot als lebendig hangelte Vitus sich an Deck, erklomm die Heckgalerie und wankte nach Steuerbord, wo Isabellas Kammer war. Er trat ein und sah ihren Leib im spärlichen Schein der Deckenlaterne liegen. »Schlafe gut, Isabella«, flüsterte er.
Dann legte er sich neben sie.
Auch in den nächsten Tagen hielt der Orkan mit unverminderter Stärke an. Die
Santa Maria de Visón
und die beiden anderen Spanier waren zwischen den turmhohen Wellen
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