Die Liebe des Wanderchirurgen
Suppe weiter um, denn er wollte nicht, dass Vitus die Tränen in seinem Gesicht bemerkte. Der Grund dafür war, dass er Ungewissheit in der Zukunft gesehen hatte, aber Gewissheit in der Vergangenheit – die Gewissheit, dass mit »der Örlin« etwas Schreckliches geschehen war.
Aber darüber konnte er nicht sprechen.
»Auf Regen folgt Sonne, hoffen wir, dass du recht behältst«, sagte Vitus und ging.
Zwei Stunden später, nachdem Vitus sich abermals um alle Kranken gekümmert hatte, stand er neben Don Pedro auf dem Kommandantendeck und beobachtete, wie die
Camborne
mit gerefften Haupt- und Bramsegeln geradewegs in den nächsten Sturm hineinkreuzte. Er hatte sich zu dem Spanier gesellt, weil er es für seine Pflicht hielt, diesem in der ersten Zeit seines Kommandos zur Seite zu stehen.
Doch wie sich zeigte, war das nicht vonnöten. Don Pedro hatte das Wasser aller Meere geschmeckt und verstand sein Handwerk exzellent. Seine Befehle kamen kurz und knapp und wurden von Manoel und Diego mit großer Lautstärke ins Englische übertragen. Die Männer der Wache führten sie aus und machten sich weiter keine Gedanken darum, denn wer auf dem Kommandantendeck stand, hatte das Sagen. Das war schon immer so gewesen, und das würde auch immer so sein. Im Übrigen hatte Vitus mit Chock, dem Maat der Backbordwache, und mit Creedy, dem neuernannten Maat der Steuerbordwache, gesprochen, außerdem mit Muddy, Ted und Dunc, den salzwassererprobten
Falcons.
Alle waren Männer der Praxis und froh, einen erfahrenen Captain in den kommenden Unwettertagen zu haben.
»Was meinst du, wie lange wird es diesmal dauern, bis wir den Sturm abgeritten haben?«, fragte Vitus.
Don Pedro antwortete, ohne den Blick vom Schiff zu nehmen: »Das ist schwer zu sagen. Jeder Sturm ist anders, jeder brüllt, röhrt und ächzt auf seine Art, je nachdem, über welchem Winkel der Erde er tobt. Bei den stärksten Stürmen aber ist es so, als hätte Gott eine gewaltige Orgel auf einer Empore über das Meer gestellt und zöge alle Register, um ihr das tiefste und dumpfeste Brummen zu entlocken, das ein menschliches Ohr vernehmen kann. Es ist ein Brummen, das du überall spürst und das dich am ganzen Körper zittern lässt.«
»Wenn das so ist«, sagte Vitus nachdenklich, »wünsche ich mir, dass Gott seine Orgel nicht spielt.«
»Ich auch«, sagte Don Pedro.
Gott schien das Gespräch zwischen Don Pedro und Vitus nicht gehört zu haben, denn er spielte seine Meeresorgel sechs Tage lang ununterbrochen, und die Melodie der Verdammnis erstarb erst langsam am siebten Tag.
Wer zuvor geglaubt hatte, er hätte die schlimmsten Unwetter bereits kennengelernt, musste leidvoll erfahren, dass er sich gründlich geirrt hatte.
Die
Camborne
hatte den Basanmast und den Kreuzmast verloren, sie war leckgeschlagen, ihre Pumpen liefen Tag und Nacht, und ihr Deck glich einem hölzernen Trümmerhaufen.
Trotzdem hatte sie sich Meile für Meile nach Süden gekämpft, immer wieder gischtgepeitschte Seen, die wie graue Wände vor ihr auftauchten, überwunden und die Schläge turmhoher Brecher ertragen.
Sie war in einem jammervollen Zustand, was nicht nur für sie, sondern auch für die Besatzung und erst recht für die Kranken galt, deren Zahl sich durch die Seekranken nochmals erhöht hatte.
Die Seekrankheit war ein Zustand, der sich durch große Willkür auszeichnete: Manch einer lernte die gefürchtete Übelkeit gleich bei seiner ersten Fahrt kennen, spie sich die Seele aus dem Leib, wollte am liebsten sterben und stellte fest, dass er danach nie wieder von ihr heimgesucht wurde, andere machten jedes Mal aufs Neue Bekanntschaft mit ihr, egal, wie alt ihre Seebeine waren, und wieder andere hatten das Glück, sie niemals am eigenen Leibe spüren zu müssen.
Zur dritten Gruppe schien Don Pedro zu gehören. Er stand bis zu zwanzig Stunden ohne Unterbrechung auf seinem Posten, unerschütterlich und unzerstörbar, bis er schließlich Vitus’ Drängen nachgab, sich in seine Koje warf, kurze Zeit ruhte und anschließend das Kommando erneut übernahm. Seiner Umsicht und Tatkraft war es in erster Linie zu verdanken, dass die
Camborne
nicht längst auf dem Meeresgrund lag.
Nur langsam spielte sich der Alltag an Bord wieder ein. Überall fehlte es an tüchtigen Händen, und die Aufräumarbeiten kamen nur schleppend voran.
Es war wieder Sonntag, und trotz der Wetterbesserung war eine Andacht auf dem Hauptdeck nicht möglich. Vitus hatte sich deshalb unter
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