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Die Liebe des Wanderchirurgen

Die Liebe des Wanderchirurgen

Titel: Die Liebe des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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ich. Wie gern wäre ich bereits wieder zurück und würde Dich und die Kinder in die Arme schließen! Ihr fehlt mir sehr, besonders Du, meine Liebste. Ich fürchte, ich bin heute ein ungeschickter Schreiber, denn es will mir nicht gelingen, meine Liebe zu Dir in die richtigen Worte zu kleiden. Bitte verzeih mir!
    Auf ein baldiges und glückliches Wiedersehen.
    Ich bin für immer der Deine.
    Vitus
    Er war keineswegs zufrieden mit seinem Geschreibsel, es kam ihm zu steif und distanziert vor, dennoch faltete er den Brief zusammen, versiegelte ihn und steckte ihn in eine Segeltuchtasche. Vielleicht würde Tipperton so freundlich sein und auf dem Kai nach einem Kurier Ausschau halten, der nach Greenvale Castle ritt.
    Es klopfte. Vitus erwartete den Zwerg, da er sich sonst niemanden denken konnte, der ihn um diese Zeit sprechen wollte. Umso überraschter war er, als Tipperton die kleine Kammer betrat. »Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen, Sir?«
    »Nein, Tipperton, ob Ihr es glaubt oder nicht, ich habe gerade an Euch gedacht.«
    »Oh, aha.« Es war Tipperton anzusehen, dass er nicht wusste, wie er die Antwort deuten sollte.
    »Ich wollte Euch bitten, diesen Brief für mich auf die Reise zu schicken. Würdet Ihr das tun? Einen Obolus für die Überbringung habe ich beigelegt.«
    »Äh, selbstverständlich, Sir.« Tipperton nahm die Segeltuchtasche an sich und blieb unschlüssig stehen.
    »Nehmt Platz, Tipperton.« Vitus deutete auf die gegenüberliegende Koje.
    »Danke, Sir.« Tipperton ließ sich umständlich nieder.
    »Was kann ich für Euch tun?« Vitus setzte sich ebenfalls. Rasch überlegte er, ob er dem Schreiber etwas anbieten sollte, aber das hätte wohl nicht gepasst.
    »Nun, der Grund für meinen Besuch bei Euch« – Tipperton räusperte sich – »ist etwas delikater Natur.«
    »Was Ihr nicht sagt.«
    »Ja, in der Tat.« Erneutes Räuspern. »So ist es.«
    »Ihr macht es spannend.«
    »Es geht um den Captain, Sir.«
    Vitus schwieg.
    »Tja, wie gesagt, es geht um den Captain. Ich wollte Euch bitten, sich seiner auf dieser Reise ganz besonders anzunehmen.«
    »Deshalb bin ich an Bord.«
    »Gewiss, gewiss. Das ist mir wohlbekannt.«
    »Aha.« Vitus beschloss, die Rede des Schreibers nicht weiter zu unterbrechen. Je weniger er das tat, desto früher würde er wissen, was sein Besucher wollte.
    »Ihr müsst wissen, Sir, dass ich seit Jahren auf dem Gut des Captains lebe, ja, ich darf wohl sagen, dass ich fast ein Familienmitglied bin.«
    »Ach was?«, entfuhr es Vitus.
    »Nicht wahr, das wusstet Ihr nicht.« In Tippertons Ton lag eine Spur Selbstgefälligkeit. »Es ist so, dass der Captain und ich uns seit Kindesbeinen kennen. Wir stammen beide aus demselben Dorf, Osborne heißt es und liegt östlich von Cowes auf der Isle of Wight. Wir waren Nachbarskinder und spielten häufig zusammen. Der Captain war schon damals ein Draufgänger. Er liebte die wilden Auftritte wie
Fight the Knight,
ein Spiel, bei dem ein Mädchen aus dem Dorf zum Burgfräulein erklärt wird und aus den Händen eines blutrünstigen Ritters befreit werden muss und so weiter …«
    Vitus blieb stumm.
    Tipperton sah sich genötigt, fortzufahren: »Ich dagegen hielt es eher mit den ruhigen Rätseln. Kennt Ihr
Flutter, flutter butterfly
oder
I spy with my eye something beginning with …?
Es ist ein ganz reizendes Spiel, bei dem eines der teilnehmenden Kinder einen Gegenstand in seiner Umgebung auswählt und dessen Anfangsbuchstaben nennt. Daraufhin müssen die anderen Kinder raten, wie der Name dieses Gegenstands ist. Wer ihn erraten hat, darf anschließend selbst die Aufgabe stellen. Wie gesagt, ein ganz reizendes Spiel.«
    Vitus sagte noch immer nichts. Einerseits, weil er die genannten Spiele nicht kannte, andererseits, weil er aus dem Staunen nicht herauskam. Dass Taggart und sein schlafmütziger Schreiber einander seit Kindesbeinen kannten, war mehr als eine Überraschung.
    Tipperton legte die Fingerspitzen aneinander und fuhr in seiner weitschweifigen Art fort: »Mit sechs kamen der Captain und ich – wir sind gleichaltrig, müsst Ihr wissen – auf eine Lateinschule. Da hieß es dann:
Non scholae sed vitae discimus
und später
Gallia est omnis divisa in partes tres …
«
    »… quarum unam incolunt Belgae«,
ergänzte Vitus, der sich entschlossen hatte, sein Schweigen zu brechen. »Auch ich habe nicht für die Schule, sondern für das Leben gelernt, und auch mir ist bekannt, dass ganz Gallien in drei Teile zerfällt, dessen einer von

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