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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Niveau jener Geräusche, die ich zu interpretieren gelernt hatte – schroff und herrisch, eine wesentliche, aber vielleicht zu wenig beachtete Begleiterscheinung des Geschehens. Und das Geschehen war explosiv, denn es waren erotische Träume. In dieser ganzen Zeit, in der ich eine junge Ehefrau und dann, ohne ungebührliche Verzögerung, eine junge Mutter war – vielbeschäftigt, treu und regelmäßig befriedigt –, hatte ich immer wieder Träume, in denen der Überfall, die Erwiderung, die Möglichkeiten über alles hinausgingen, was das Leben bot. Und aus denen romantische Liebe verbannt war. Ebenso wie alle Hemmungen. Unser Bett – das Mr. Gorrie und ich teilten – war der steinige Strand oder das raue Bootsdeck oder schmerzhafte, ölige Tauwerkrollen. Es gab ein Schwelgen im, man könnte sagen, Widerwärtigen. Sein stechender Geruch, sein milchiges Auge, seine fauligen Zähne. Ich erwachte aus diesen heidnischen Träumen bar allen Erstaunens, aller Scham, und schlief wieder ein und erwachte mit einer Erinnerung, die ich am Morgen verdrängte. Für viele Jahre und sicherlich noch lange nach seinem Tod agierte Mr. Gorrie so in meinem Nachtleben. Bis ich ihn vermutlich aufgebraucht hatte, wie wir die Toten aufbrauchen. Aber so kam es mir nie vor – dass ich das Heft in der Hand hatte, dass ich ihn dorthin geholt hatte. Es schien gegenseitig zu sein, als hätte auch er mich dorthin geholt und als wäre es sein Erleben ebenso wie meines.
    Und das Boot und der Anlegesteg und die Steine am Ufer, die Bäume, die zum Himmel strebten oder sich krümmten und über das Wasser beugten, die komplizierten Umrisse der umgebenden Inseln und der verhangenen und dennoch deutlich sich abzeichnenden Berge schienen in einer natürlichen Wirrnis da zu sein, großartiger und gleichzeitig alltäglicher als alles, was ich träumen oder erfinden konnte. Wie ein Ort, der weiterhin da sein wird, ob man sich dort befindet oder nicht, und der tatsächlich immer noch da ist.
    Aber ich sah nie die verkohlten Dachbalken des Hauses, herabgestürzt auf den Leichnam des Ehemannes. Das war zu lange her, und der Wald hatte alles überwuchert.

Einzig der Schnitter
    Das Spiel, das sie spielten, war fast das gleiche, das Eve mit Sophie gespielt hatte, auf langen, öden Autofahrten, als Sophie ein kleines Mädchen war. Damals drehte es sich um Spione – jetzt um Aliens. Sophies Kinder Philip und Daisy saßen auf dem Rücksitz. Daisy war knapp drei und konnte noch nicht verstehen, was vorging. Philip war sieben und Chef im Ring. Er suchte das Auto aus, dem sie folgen mussten, weil darin soeben eingetroffene Raumfahrer aus dem All saßen und auf dem Weg zu ihrem geheimen Hauptquartier waren, der Höhle der Invasoren. Sie erhielten ihre Anweisungen durch Signale von glaubhaft aussehenden Leuten in anderen Autos oder von jemandem, der neben einem Briefkasten stand oder sogar auf einem Feld einen Traktor fuhr. Viele Aliens waren schon auf der Erde gelandet und übertragen – das war Philips Wort – worden, sodass jeder einer sein konnte. Tankwarte oder Frauen, die Kinderwagen schoben, oder sogar die Babys in den Kinderwagen. Sie alle konnten Signale geben.
    Eve und Sophie hatten dieses Spiel meistens auf einem vielbefahrenen Highway gespielt, wo genug Verkehr war und sie nicht entlarvt werden konnten. (Obwohl sie sich einmal so hineingesteigert hatten, dass sie auf einem Vorstadtsträßchen gelandet waren.) Auf den Landstraßen, die Eve heute nahm, war das nicht so leicht. Sie versuchten das Problem zu lösen, indem sie bei der Verfolgung notfalls von einem Wagen auf einen anderen wechselten, denn einige waren nur Ablenkungsmanöver, die gar nicht zum Hauptquartier fuhren, sondern sie in die Irre führten.
    »Nein, das ist anders«, sagte Philip. »Die machen das so: die saugen die Leute aus dem einen Auto in ein anderes, falls sie verfolgt werden. Die können in einem Körper drin sein, und dann sausen sie
schlupp
durch die Luft in einen anderen Körper in einem anderen Auto. Sie sausen andauernd in andere Leute, und die Leute wissen gar nicht, was in ihnen drin war.«
    »Ist wahr?«, sagte Eve. »Woher wissen wir dann, welches Auto es ist?«
    »Der Code ist auf dem Nummernschild«, sagte Philip. »Das wird von dem elektrischen Feld verändert, das sie im Auto aufbauen. Damit ihre Überwacher im Weltraum ihnen folgen können. Das ist bloß was ganz Kleines und Einfaches, aber ich darf’s euch nicht sagen.«
    »Kapiere«, sagte Eve.

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