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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Gefühl, befreit zu sein und ein Ziel zu haben. In solchen Momenten kam mir meine unmittelbare Vergangenheit irgendwie beschämend vor. Stunden hinter dem Alkovenvorhang, Stunden am Küchentisch und Seite um Seite voller Fehlschläge, Stunden in einem überheizten Zimmer mit einem alten Mann. Der zottige Teppich und die plüschigen Polstermöbel, der Geruch seiner Kleidung und seines Körpers und des trockenen Kleisters der Sammelalben, die Hektar Zeitungspapier, die ich durchpflügen musste. Die schauerliche Geschichte, die er aufgehoben und mir zu lesen gegeben hatte. (Ich begriff keinen Augenblick lang, dass sie in die Kategorie menschlicher Tragödien gehörte, denen ich, wenn sie in Büchern standen, Achtung zollte.) Ich erinnerte mich an all das, wie ich mich an eine Zeit der Krankheit in meiner Kindheit erinnerte, als ich nicht ungern in kuscheliger Flanellbettwäsche mit ihrem Geruch nach Kampferöl gefangen lag, festgehalten von meiner Mattigkeit und den fiebrigen, nicht ganz entzifferbaren Botschaften der Äste und Zweige, die ich durch mein Fenster im ersten Stock sah. Solchen Zeiten trauerte man nicht lange nach, sie wanderten einfach in die Rumpelkammer. Und auch ein Teil von mir selbst – ein ungesunder Teil? – schien nun beim Gerümpel zu landen. Man sollte meinen, diese Verwandlung wäre von der Ehe herbeigeführt worden, aber so war es nicht, zumindest anfangs nicht. Verkrochen hatte ich vor mich hingebrütet, war meinem alten Ich treu geblieben – störrisch, unweiblich, voller Angst, etwas von mir preiszugeben. Jetzt ging ich das Leben an und schätzte mich glücklich, mich in eine Ehefrau und Angestellte verwandelt zu haben. Hübsch und tüchtig genug, wenn ich mir Mühe gab. Keine Spinnerin. Ich machte mich.
     
    Mrs. Gorrie kam mit einem Kopfkissenbezug an meine Tür. Feindselig, pessimistisch lächelnd zeigte sie die Zähne und fragte mich, ob es meiner sein könnte. Ich verneinte ohne Zögern. Die beiden Bezüge, die ich besaß, waren auf den beiden Kopfkissen auf unserem Bett.
    Im Tonfall einer Märtyrerin sagte sie: »Na, meiner ist es ganz bestimmt nicht.«
    Ich fragte: »Woran erkennen Sie das?«
    Langsam wurde ihr Lächeln giftiger und selbstsicherer.
    »Mit so einem Stoff würde ich nie Mr. Gorries Bett beziehen. Oder meins.«
    Warum nicht?
    Weil–er–nicht–gut–genug–ist.
    Also musste ich gehen und die Bezüge von den Kissen auf unserem Alkovenbett abziehen und ihr an die Tür bringen, und tatsächlich stellte sich heraus, dass sie nicht zusammengehörten, obwohl sie für mich so ausgesehen hatten. Einer war aus »gutem« Stoff, das war ihrer, und der in ihrer Hand war meiner.
    »Ich hätte nie geglaubt, dass so was nicht auffällt«, sagte sie, »wenn’s jemand anderem als Ihnen passiert wäre.«
     
    Chess hatte von einer anderen Wohnung gehört. Eine richtige Wohnung, keine »möblierte Wohneinheit« – mit einem vollausgestatteten Badezimmer und zwei Schlafzimmern. Ein Kollege von ihm zog aus, weil er und seine Frau sich ein Haus gekauft hatten. Die Wohnung lag an der Ecke First Avenue und Macdonald Street. Ich konnte immer noch zu Fuß zur Arbeit, und er konnte mit demselben Bus fahren wie bisher. Mit zwei Gehältern konnten wir sie uns leisten. Der Kollege und seine Frau ließen einige Möbel zurück und waren bereit, sie billig abzugeben. Sie passten nicht in ihr neues Haus, aber uns kamen sie prachtvoll vor in ihrer Bürgerlichkeit. Wir gingen durch die hellen Zimmer im dritten Stock und bewunderten die cremeweiß gestrichenen Wände, das Eichenparkett, die geräumigen Küchenschränke und den gefliesten Badezimmerfußboden. Die Wohnung hatte sogar einen kleinen Balkon, von dem man auf das Laub vom Macdonald Park blickte. Wir verliebten uns auf neue Art ineinander, verliebten uns in unseren neuen Status, unsere Versetzung ins Erwachsenenleben aus dem Keller heraus, der nur eine kurze Zwischenstation gewesen war. In unseren Gesprächen kam er noch jahrelang als Witz vor, als Härtetest. Jeder unserer Umzüge – in das gemietete Haus, in unser erstes eigenes Haus, in unser zweites eigenes Haus, in das erste Haus in einer anderen Stadt – brachte dieses Hochgefühl von Fortschritt mit sich und festigte unsere Verbindung. Bis zum letzten und bei weitem imposantesten Haus, das ich mit dunklen Vorahnungen und aufkeimenden Fluchtgedanken betrat.
    Wir händigten Ray unsere Kündigung aus, ohne Mrs. Gorrie etwas davon zu sagen. Das trieb sie auf den Gipfel der

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