Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Anhöhe, von der aus man noch besser als vom Leuchtturm die zerrissenen Oktobersonnenuntergänge genießen konnte. Auch die stillen Haie waren zu sehen, die vor dem Strand der Seminaristen lauerten, und donnerstags der Überseedampfer, riesig und weiß und fast mit Händen zu greifen, wenn er den Hafenkanal passierte. Florentino Ariza pflegte sich nach einem harten Bürotag eine der leichten Kutschen zu mieten, schlug jedoch nicht, wie in den heißen Monaten üblich, das Verdeck zurück, sondern blieb, auf seinem Sitz im Fond im Schatten verborgen, stets allein, und er gab dem Kutscher willkürliche Ziele an, um ihn nicht auf Hintergedanken zu bringen. Das einzige, was ihn an der Spazierfahrt wirklich interessierte, war der zwischen den schattigen Bananen- und Mangohainen halb versteckte Parthenon aus rosa Marmor, eine wenig glückliche Kopie der idyllischen Landsitze auf den Baumwollplantagen Louisianas. Kurz vor fünf kamen Fermina Dazas Kinder nach Hause. Florentino Ariza sah sie in der Familienkutsche eintreffen, sah dann später Doktor Juvenal Urbino zu seinen routinemäßigen Hausbesuchen ausfahren, erhaschte jedoch in fast einem Jahr solcher Fahrten nicht einmal einen Schimmer dessen, was er ersehnte.
Eines Nachmittags, als er, obwohl gerade der erste verheerende Regenguß des Junis niederging, eine seiner einsamen Spazierfahrten unternahm, rutschte das Pferd im Schlamm aus und stürzte. Florentino Ariza bemerkte entsetzt, daß sie sich gerade vor dem Anwesen von Fermina Daza befanden, und redete beschwörend auf den Kutscher ein, ohne zu bedenken, daß seine Verstörung ihn verraten könnte. »Nicht hier, bitte«, schrie er ihn an. »Überall, nur nicht hier!« Von seinem Drängen verwirrt, versuchte der Kutscher das Pferd auf die Beine zu bringen, ohne es zuvor abzuschirren, worauf die Achse des Wagens brach. Florentino Ariza kroch irgendwie aus der Kutsche und ertrug die Schmach, dort im unerbittlichen Regen zu stehen, bis Vorbeifahrende sich erboten, ihn heimzubringen. Während er noch wartete, sah ihn ein Dienstmädchen der Urbinos bis zu den Knien im Schlamm waten, brachte ihm einen Regenschirm und empfahl ihm, sich auf der Terrasse unterzustellen. Florentino Ariza hätte nicht im kühnsten seiner Träume mit so einem Glücksfall gerechnet, wäre an jenem Nachmittag aber lieber gestorben, als sich von Fermina Daza in einem solchen Zustand sehen zu lassen.
Als sie noch in der Altstadt wohnten, gingen Juvenal Urbino und seine Familie sonntags zu Fuß zur Acht-Uhr-Messe in die Kathedrale, ein eher weltlicher als religiöser Akt. Nach ihrem Umzug fuhren sie mehrere Jahre lang mit der Kutsche zur Messe und blieben dann manchmal noch in der Stadt, um sich mit Freunden unter den Palmen des Parks zu treffen. Als aber in La Manga die Kirche des Seminars mit Privatstrand und eigenem Friedhof gebaut wurde, besuchten sie nur noch bei hoch feierlichen Anlässen die Kathedrale. Florentino Ariza, der von diesen Veränderungen nichts ahnte, wartete mehrere Sonntage im Cafe de la Parroquia und überwachte nach den drei Messen den Ausgang des Gotteshauses. Später bemerkte er seinen Irrtum und ging in die neue Kirche, die noch bis vor wenigen Jahren in Mode war, und traf dort auch Juvenal Urbino und seine Kinder, die an den vier Augustsonntagen pünktlich um acht Uhr erschienen. Fermina Daza war jedoch nicht bei ihnen. An einem dieser Sonntage besuchte Florentino Ariza den neuen angrenzenden Friedhof, in dem die Bewohner von La Manga gerade ihre prunkvollen Pantheons erbauen ließen, und sein Herz machte einen Sprung, als er im Schatten der großen Ceibas den allerprunkvollsten entdeckte, bereits fertiggestellt, mit gotischen Fenstern, Marmorengeln und Grabplatten, auf denen in goldenen Lettern die Namen der ganzen Familie standen. Natürlich auch der von Doña Fermina Daza de Urbino de la Calle und daneben der des Ehemannes, dazu ein gemeinsamer Grabspruch: Auch im Frieden des Herrn vereint.
Das restliche Jahr über nahm Fermina Daza an keiner offiziellen oder geselligen Veranstaltung mehr teil, nicht einmal an den Weihnachtsfeiern, bei denen sie und ihr Mann sonst eine repräsentative Rolle gespielt hatten. Am deutlichsten spürbar war ihre Abwesenheit jedoch bei der Eröffnung der Opernsaison. In der Pause überraschte Florentino Ariza eine Gruppe, die, ohne Fermina Daza namentlich zu erwähnen, zweifellos über sie sprach. Es hieß, jemand hätte sie gesehen, wie sie im vergangenen Juni mitten in der Nacht auf
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