Die Liebe ist ein Daemon
ob nett der richtige Ausdruck ist. Auf jeden Fall ist sie eine sehr starke Frau, so jung schon den Mann zu verlieren und alleine mit dem Neffen in eine fremde Stadt zu ziehen … hast du ihn denn kennengelernt?«
Sie sieht mich an.
»Federico, meine ich.«
Ob ich ihn kennengelernt habe? Kann man so etwas kennenlernen nennen?
Nein.
War es nicht eher ein kurzes, unvermitteltes, verwirrendes Gespräch, in dem ich seinen seltsamen Hypnotisierungskünsten zum Opfer gefallen bin?
Ich gebe einen komischen Laut von mir, der alles Mögliche bedeuten kann, auch nur, dass ich mich verschluckt habe.
|72| »Auf jeden Fall«, fährt Mama fort, »hat sie mir nicht viel erzählt. Ich hoffe nur, dass es nichts gibt, worüber wir uns Sorgen machen müssen.«
Meine Mutter ist ziemlich beunruhigt, das merkt man an der Art und Weise, mit der sie mich an ihren Gedanken teilhaben lässt, anstatt darauf zu warten, nach Hause zu kommen und Papa alles zu erzählen.
»Wieso das denn?«
»Diese Frau ist sehr freundlich, aber sie hat mir eine Menge Fragen gestellt und ich habe mich in ihrer Gesellschaft irgendwie unwohl gefühlt … vielleicht lag es einfach daran, dass ich so angespannt war.«
Das Treffen mit Nora hat meine Mutter also nervös gemacht und ich war genauso kribbelig, während ich mit ihrem Neffen im Garten war. Interessant.
»Ich fürchte, dass diese neue Familie viel … Aufsehen in der Stadt erregen wird.«
Ich lache. »Was würde in dieser Stadt kein Aufsehen erregen? Du bist doch schon verdächtig, wenn du nur deinen Haarschnitt veränderst …«
»Du hast ja recht«, stimmt sie mir lächelnd zu. »Aber sag mal, wie wurde der Jungen in der Schule aufgenommen? Ist er in deiner Klasse?«
Nein! Dem Himmel sei Dank, das hätte mir gerade noch gefehlt. Wie hätte ich mich in seiner Nähe konzentrieren können, in einem Klassenzimmer, wo jeder nur dreißig Zentimeter vom anderen, auch vom Lehrerpult, entfernt sitzt? Unmöglich.
|73| »Nein, und ich habe auch keine Ahnung, wie er aufgenommen wurde, ich habe ihn nicht einmal bemerkt.«
Das stimmt fast: Ich sehe ihn nie, deshalb stoße ich auch immer mit ihm zusammen …
Ich drehe das Buch in den Händen und denke, dass ich es ihm früher oder später zurückgeben muss. Vielleicht kann ich es in seinen Briefkasten werfen.
Wäre Federico in meine Klasse gekommen, wäre Lavinia nur noch damit beschäftigt gewesen, entweder ihm oder Lorenzo schöne Augen zu machen. Vielleicht hätte sie Lorenzo fallen lassen, um sich ganz und gar dem Neuen zu widmen.
Ich beiße mir nachdenklich auf die Lippen.
Ich weiß nicht, warum, aber mein erster Eindruck von Federico ist, dass er sich nicht von Lavinia mit einem einzigen Bissen vernaschen lassen würde.
Wir steigen aus dem Auto und sind endlich zu Hause. Ich gehe in mein Zimmer, während meine Mutter Eile hat, sich mit Papa zu unterhalten und gleichzeitig etwas zum Abendessen zu kochen.
»Ich hab keine Zeit zum Essen«, sage ich. Sie sind so in ihr Gespräch vertieft, dass sie mich kaum beachten.
Ich schalte die Stereoanlage an, ziehe meine Jacke aus und werfe sie auf den Stuhl. Dann mache ich es mir auf dem Bett mit übereinandergekreuzten Beinen gemütlich. Ich lege das Philosophiebuch zur Seite und greife nach
Das Gastmahl.
Ich drehe und wende zum soundsovielten Mal das schmale Büchlein in den Händen, fast als ob ich etwas finden wollte, |74| was mir vorher vielleicht nicht aufgefallen ist, aber es bleibt nur ein einfaches und vom Lauf der Jahre verschlissenes dünnes Buch.
Das Gastmahl
, ich weiß genau, wovon es handelt: Es handelt von der Liebe.
Aber was sollte das heißen: »Vorsicht, Dornen«?
Und wie konnte Federico wissen, dass ich gerade Philosophie gebüffelt habe?
War das nur Zufall?
Oder hatte er vom Fenster aus den Titel des Buches gelesen, das auf meinem Schoß lag? Trotz der Entfernung? Und trotz des gedämpften Lichts am späten Nachmittag?
Vielleicht läuft er immer mit dem
Gastmahl
in der Tasche herum …
Oder er hat einen Eingangstest über das gleiche Thema. Unsere Schule erhebt keinen besonderen Anspruch auf Originalität zwischen den einzelnen Klassen.
Ich öffne das Buch.
Rasch blättere ich die Seiten durch.
Eine rote Rose fällt auf meine Beine.
Mir stockt der Atem.
Ich greife nach ihr und steche mich in den Finger.
Autsch!
Ein winziger Blutstropfen erscheint.
Er hat es mir ja gesagt: Vorsicht, Dornen!
|75| ICH SCHULDE DIR ZWEI GEFALLEN
»Wer im letzten Schuljahr
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