Die Liebe ist ein Daemon
überfällt er mich mit seinen Klauen.
Und es tut weh. Es tut weh, weil du dabei bist, Alessia.
Wir verabschieden uns am Bahnhof und du steigst in den Zug ein, der dich für immer von unserem Leben wegreißen wird.
Du steigst ein und fährst weg.
Vorher umarmst du mich noch und sagst zu mir: »Pass auf.«
Dabei lächelst du wehmütig. Es ist kein schöner Urlaub, in den du fährst, und wir beide wissen es.
»Pass auf dein Herz auf.«
Ich verstehe dich nicht. Ich denke nur, dass der Zug wie jede Nacht wegfahren wird und dass ich das nicht möchte.
»Bitte, Ale, bleib da«, sage ich, mit einer von Schluchzern schon ganz rauen Stimme.
Du schüttelst kaum merklich den Kopf, sehr langsam und von einer Gewissheit erfüllt, die ich nicht habe. Du zeigst mir eine Stelle unter deinem linken Schulterblatt, wo ein riesiger roter und tiefer Riss verläuft. Noch einmal lächelst du traurig.
»Pass auf dein Herz auf«, wiederholst du.
Du steigst ein und der Zug fährt los.
Ich wache auf meinem tränennassen Kissen auf, ein Kloß steckt mir im Hals. Ich bekomme kaum noch Luft.
Heute ist der dritte verzweifelte Tag. Morgen muss ich wieder in die Schule.
Mir wird ganz schlecht bei dem Gedanken, dass im Klassenzimmer ein Stuhl leer bleiben wird.
|130| »Können wir dich kurz mal sprechen, Liebling?«, fragen meine Eltern. Elena sitzt bereits neben ihnen.
Ich nicke und komme dazu.
»Vittoria, wir sind uns klar darüber, dass du noch unter Schock stehst. Aber wir müssen mit dir über das reden, was passiert ist. Schaffst du das?«
Ich nicke, obwohl ich nicht sicher bin, ob ich Alessias Namen aussprechen kann, ohne in Tränen auszubrechen.
»Es hat sich nicht ganz so ereignet, wie wir es dir erzählt haben …«
Mein Schmerz lässt für einen Moment nach, so absurd kommt mir diese Information vor.
Was sagen sie da gerade? Was ist geschehen?
»Es war kein Selbstmord«, sagt meine Mutter trocken.
»Ja, aber was war es denn sonst? Hat etwa jemand sie umgebracht? Ist die Polizei eingeschaltet? Wieso habt ihr mich angelogen?«
»Warte, Liebes, gleich sagen wir dir alles. Du musst uns vertrauen, wir konnten nichts anderes tun. Der Fall wurde sofort als Selbstmord registriert, weil die Fundstelle und alles andere darauf schließen ließen, dass es wirklich ein Selbstmord war. Die Polizei hat den Fall abgeschlossen und die Gemeinschaft der Engel hat es dabei belassen. Doch die Wahrheit ist eine andere … Ein Engel kann nicht einfach so sterben, einfach so an einer Verletzung.«
Bei diesen letzten Worten lässt meine Mutter ihren Kopf hängen, so als wäre das Gewicht der Wahrheit zu schwer für ihn. Im Zimmer entsteht eine surreale Stille. Mein Vater, der |131| neben ihr steht, sieht irgendwoanders hin. Meine Eltern schaffen es nicht weiterzusprechen.
»Was um Himmels willen ist denn passiert, könnt ihr mir das endlich sagen?«, frage ich gereizt.
»Amore, wir … wir sind nicht die einzige Macht, die man auf der Welt fürchten muss.«
Von allen möglichen Worten musste meine Mutter ausgerechnet diese wählen, ausgerechnet diesen Satz, bei dem ich sofort an ihn denken muss. Es ist, als ob mir ein eisiger Luftzug aus einem sich plötzlich öffnenden Fenster in den Nacken kriechen würde.
»Dämonen«, fügt mein Vater hinzu. »Das sind die einzigen Wesen, die einen Engel töten können. Dämonen.«
Er schlägt ein Buch auf, das ich noch nie in unserem Haus gesehen habe – wer weiß, wo es die ganze Zeit versteckt war –, und zeigt mir eine Abbildung.
Eine Frau mit platinblondem Haar, feurigen Augen und langen schwarzen Fingernägeln steht in einer bedrohlichen Haltung da. Ein Mann mit sengendem Blick kniet neben ihr, er stützt sich auf dem Boden ab und streckt sich dabei wie eine Katze nach vorne. Auch seine Fingernägel sind schwarz, genau wie seine Haare. Auf dem Rücken tragen beide tiefschwarze Flügel. Die Frau hat ein Zeichen auf der Hüfte eingebrannt. Es ist ein kleines Symbol, das mich an irgendetwas erinnert … aber kann das sein? Nein, das ist unmöglich.
Man ist, was man ist
. Das hat er selbst gesagt.
Ich will es nicht glauben. Ich kann nicht glauben, dass er wirklich …
|132| … ein Dämon ist.
Das Wort
Dämon
lacht selbstgefällig und spöttisch in meinem Kopf, als wollte es sich über mich lustig machen.
Das Zimmer wird dunkel und verschwimmt vor meinen Augen, es schrumpft immer weiter zusammen und verschlingt mich. Auf einmal spüre ich den Fußboden unter meinem
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