Die Liebe ist ein Daemon
purpurrot verfärbte Federn, die im Wind zittern, jedoch nicht fortgeweht werden. Sie sehen aus wie die Blütenblätter einer wunderschönen Blume, die vom Sturm abgerissen wurde. Das |144| Blut fließt immer noch in heißen und dichten Strömen an Lorenzo herunter, es läuft über seine helle Haut und bis zu seinen weißen zarten Flügel.
»Vicky?«
Er spricht! Er lebt noch!
»Ich bin hier«, antworte ich schluchzend.
»Es ist alles in Ordnung«, murmelt er kaum hörbar.
Seine Augen sind geschlossen. Der Mund ist vor Schmerz verzogen und macht es mir schwer, ihm zu glauben.
»Nichts ist in Ordnung, Lorenzo …«
»Doch … doch, es geht mir gut.«
Endlich macht er die Augen auf.
»Wein doch nicht … ich bin okay«
Seine Stimme ist zwar schwach, aber trotzdem klingt sie so entschlossen wie immer.
Endlich scheint auch das über seinen Rücken laufende Blut zu versiegen.
»Wart mal kurz … Ich weiß, was …« Er kann den Satz nicht zu Ende bringen. Er dreht den Kopf zur Seite und verzieht, von einem heftigen krampfartigen Schmerz gepackt, das Gesicht.
Innerhalb von wenigen Sekunden sind die Flügel verschwunden. Nur noch die purpurroten Federn auf dem Pflaster und die überall verteilten Blutspritzer erinnern an sie. Langsam wird sein Atem ruhiger. Ich versuche immer noch, die restlichen, noch blutenden Wunden zu verbinden. Ganz langsam verschließen sich die zwei riesigen Risse auf seinem Rücken.
|145| Wir schweigen. Nur mein gedämpftes Schluchzen, das einfach nicht aufhören möchte, ist in der Stille zu hören.
In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Ich stelle mir vor, was passiert sein könnte, und male mir alles lebhaft aus. Ein ganzer Film läuft vor meinem inneren Auge ab.
Ich stelle mir vor, wie er alleine in dem verlassenen mittelalterlichen Viertel auf mich gewartet hat. Wie er mir, ganz in Gedanken versunken, den Rücken zudreht und wie dann ein Schatten auf ihn herabfällt, genau so einer, wie er mich gerade erst erschreckt hat. Ich sehe, wie Lorenzo mit diesem Schatten ringt, wie er verzweifelt versucht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ich zittere am ganzen Körper.
»Lorenzo, bitte … sag mir, was passiert ist. Wer war es? Wer hat dir das angetan?«
Er dreht sich zu mir um. Seine blauen Augen blicken mich erstaunt und gleichzeitig seltsam stolz an.
»Nein, Vicky, da war niemand … Ich hab mir das alles … alleine zugefügt.«
Manchmal kommt mir das Leben wie ein Dominospiel vor. In dem Moment, in dem man alle Steine gerade und ganz nah beieinander in einer Reihe aufgestellt hat, muss nur ein Stein kippen, damit ihm alle auf der Stelle folgen, einer nach dem anderen. Es scheint, als hätte unser so normales und alltägliches Leben vor ein paar Monaten Risse bekommen. Nach und nach sind alle unsere Gewissheiten weggebrochen und die Ereignisse purzeln wie Dominosteine durcheinander.
|146| Das hat doch alles keinen Sinn!
Lorenzo versucht, sich aufzusetzen. Seine Muskeln spannen sich unter der Anstrengung und in dem Moment erkenne ich, dass seine kleineren Wunden bereits verheilt sind. Man kann sie überhaupt nicht mehr sehen. Nur noch eine tiefrote Schramme auf dem rechten Arm und ein tiefer Kratzer auf seiner Stirn sind geblieben.
Und zwei dunkelrote Blutspuren, die immer noch seinen Rücken hinunterlaufen.
Seine Kapuzenjacke hat an der Stelle, wo anscheinend die Flügel durchgestoßen sind, zwei große Risse.
Er nimmt sie in die Hand und grinst.
»Och nö, das war eine meiner Lieblingsjacken.«
Ich ziehe meine Jeansjacke aus.
»Nimm die hier, die passt dir bestimmt nicht, aber wenigstens hält sie dich warm.«
»Ich wollte nicht, dass du mich hier siehst … es tut mir leid.«
»Aber wieso … ich versteh überhaupt nichts mehr. Warum sagst du mir nicht endlich, was passiert ist?«
»Ich habe es für euch getan«, sagt er ganz leise, ohne mich anzusehen. Seine Stimme ist so schwach, dass ich ihn kaum verstehen kann.
»Für dich … für dich und für Ginevra … wegen Alessia. Sie ist gestorben, ohne zu wissen, in welcher Gefahr sie sich befand. Sie musste sterben, weil niemand da war, um sie zu beschützen.«
Seine Stimme wird von Wort zu Wort fester.
|147| »Ich weiß nicht, wovor wir Angst haben müssen, und ich hasse es, das nicht zu wissen. Aber wenn irgendetwas oder irgendjemand versuchen sollte, euch wehzutun, egal wie …«
Die Stimme wird immer lauter.
»Dann schwöre ich, dass ich zur Stelle sein
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