Die Liebe ist ein Daemon
manche Wörter drei Oktaven über der restlichen Lautstärke liegen. Kein gutes Zeichen, überhaupt nicht.
Seit über einer Stunde geht das schon so.
Unsere Lehrer haben sie heute schon mehrmals gebeten, endlich leise zu sein, ihnen wieder und wieder gedroht, aber es war einfach zwecklos.
Es geht immer um dasselbe Thema: das Geschichtsprojekt.
Marco, der eine Bank hinter mir sitzt, beugt sich zu mir nach vorne.
»He, Vicky … kapierst du das?«
»Ja, ich glaube, es ähnelt irgendwie der Vorstellung von Parmenides.«
»Nein, doch nicht das. Ich meine, was mit Ginevra und Lorenzo los ist.«
|186| »Ach so …«
Unser Philosophielehrer wirft uns einen bitterbösen Blick zu. Ich schaue schnell wieder ins Buch, aber so einfach lässt er sich nicht beruhigen.
»Wenn ihr nicht augenblicklich mit dem Getuschel aufhört, könnt ihr euren Kaffeeklatsch draußen fortsetzen. War das jetzt klar genug?«
»Ja, Entschuldigung.«
Diesmal wagt keiner mehr, noch einen Pieps von sich zu geben. Ginevra versucht ihr Bestes, die Tränen zurückzuhalten und nicht laut loszuschluchzen. Lorenzo starrt regungslos die Wand an. Irgendwas ist zwischen ihnen kaputtgegangen. Das wird mir in dem Moment bitterlich klar.
Und irgendwas zerbricht auch in mir.
|187| LIEBEN UND HASSEN
Ich liege auf dem Bett und starre zur Decke. Schon seit mindestens einer Stunde.
Morgen fangen wir mit dem Projekt an.
Ich kann nicht einschlafen. Das passiert mir immer, wenn ich frustriert oder wegen irgendwas sehr aufgeregt bin.
Manchmal ist es auch nur ein Gedanke, der mich vom Schlafen abhält. Ein Gedanke, der um Einlass in meinen Kopf bittet, der sich Platz verschaffen möchte, um sich dann gemütlich einzunisten.
Morgen ist also der große Tag.
Durch das Fenster scheint ein schmaler Streifen Himmel. Wie viele Sterne gibt es wohl da draußen?
Ich habe keine Ahnung. Wahrscheinlich sind es unendlich viele. Ist es vielleicht so wie mit den Schafen? Vielleicht sollte ich sie zählen, um endlich einzuschlafen. Ich probier es gleich mal aus.
Ein Stern.
Zwei Sterne.
Drei Sterne.
Vier Sterne.
Nein, so funktioniert das nicht. Sie sind einfach zu schön, |188| ich könnte die ganze Nacht aufbleiben, um sie mir anzusehen, ohne auch nur einen Hauch von Müdigkeit zu spüren.
Und außerdem habe ich mich schon wieder verzählt.
Ich drehe mich auf die Seite, dann wälze ich mich gleich wieder zurück auf den Rücken. Atme tief ein und aus. Die Bettwäsche riecht ganz frisch, sie duftet wie die kleinen Blumen, die draufgedruckt sind, viele kleine Vergissmeinnicht.
Ich ziehe einen Arm unter der weichen, warmen Decke hervor, es ist kalt und ich bekomme eine Gänsehaut, aber ich schiebe ihn nicht zurück, sondern lasse ihn leicht hin- und herbaumeln.
Wie riechen eigentlich Vergissmeinnicht?
Ich glaub, ich weiß das gar nicht, ich hab irgendwie noch nie an ihnen gerochen. Wer weiß, ob sie überhaupt einen Duft haben, ob sie so gut riechen, wie sie schön sind. Ich schiebe den kalten Arm wieder unter die Decke und schlinge beide Arme fest um meine Brust.
Morgen fangen wir mit dem Projekt an.
Kann man wegen ein und derselben Sache traurig und glücklich zugleich sein?
Vielleicht ist es wie am letzten Schultag. Da ist man ja auch glücklich über die langen Ferien, die vor einem liegen, und im selben Moment traurig, weil man weiß, dass man ein paar von seinen Freunden im nächsten Schuljahr nicht mehr wiedersehen wird.
Nein, es ist anders. Denn bei dem Beispiel vom letzten Schultag handelt es sich um zwei ganz verschiedene Dinge.
Kann man zur selben Zeit eine Sache lieben und hassen?
|189| Oder einen Menschen?
Nach Meinung von Catull geht das sehr wohl, und wenn so ein großer Dichter wie Catull das sagt, dann glaube ich ihm das auch. Ich murmle den kurzen Vers vor mich hin:
Ich hasse und ich liebe
– warum, fragst du vielleicht.
Ich weiß es nicht. Ich fühl’s – es zerreißt mir das Herz.
Es zerreißt mir das Herz.
In Gedanken wiederhole ich den Satz.
Es zerreißt mir das Herz.
Denselben Menschen zur selben Zeit zu lieben und zu hassen.
Ich seufze und vergrabe mein Gesicht in das Kissen.
Wer weiß, ob Catull auch sechzehn Jahre alt war, als er das zum ersten Mal gedacht hat.
|190| WIE EIN BLATT IM WIND
Der Wecker klingelt nicht. Er schläft einfach weiter. Wie kann er dann bitte von mir verlangen, dass ich aufwache? Zum Glück platzt meine Schwester ins Zimmer, gewiss nicht aus reiner Nächstenliebe, sondern weil sie
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