Die Liebe verzeiht alles
Jeder hier weiß, dass er schlechte Gene hat.“
Betretenes Schweigen lastete in der Küche. Ihre große Schwester hörte zu kauen auf, und Nettie sah sie überrascht und besorgt an.
„Zumindest behaupten die Leute das“, fügte Lilah hinzu und stach auf ihren Pfannkuchen ein.
Ohne den Blick von ihr zu wenden, trank Harm einen Schluck Kaffee, stellte den Becher dann auf den Tresen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hoffe, du korrigierst sie“, meinte er, und als sie nicht antwortete, nahm er ein Handtuch und trocknete die Tasse ab, die noch vom frühen Morgen abgespült im Geschirrgitter stand. „Manche Menschen lassen sich in ihrem Urteil vom äußeren Eindruck leiten oder von dem, was in der Vergangenheit gewesen ist“, erklärte er ruhig. „Das gibt mehr Aufschluss über den, der urteilt, als über den, der beurteilt wird.“
„Das stimmt“, pflichtete Sara ihm bei und schob sich einen Bissen in den Mund.
Natürlich wünschte sich die Schwester, die mit fünfzehn noch nicht einmal einen Lippenstift benutzte, dass dem so wäre.
Doch Lilah wusste es besser, denn sie hatte schon bemerkt, wie hilfreich ein gutes Äußeres war. Damit konnte sie die Leute vergessen lassen, dass sie nicht so intelligent war wie Sara oder so lieb wie Nettie.
Gus hingegen bemühte sich nie darum, dass man ihn mochte, weshalb es wahrscheinlich auch niemand tat.
Außerdem war es nicht Lilahs Schuld, dass er schäbige Kleidung trug. Die Frauen aus der Kirchengemeinde spendeten ausnahmslos Sachen in gutem Zustand. Sara, Lilah und Nettie hatten schon viele davon angezogen. Genauso wenig konnte sie etwas dafür, dass er sich nie die Haare schneiden ließ oder die Schule zumeist nur dann besuchte, wenn ihm danach war.
Außerdem benahm er sich nicht gerade gut. Warum dachte Onkel Harm keinen Moment daran? Letztes Jahr zum Beispiel war Gus erst ein paar Tage in der Schule gewesen, als er Billy Grant auf die Nase geboxt hatte, weil er von diesem ein Halbblut genannt worden war. Während der ganzen nächsten Unterrichtsstunde hatte Billys Nase geblutet. Oder …
„Ich verstehe sowieso nicht, warum er Klamotten braucht“, sagte sie, und die zwei Jahre jüngere Nettie kniff sie besorgt unterm Tisch. „Er kommt kaum in die Stadt, und wenn, steckt er den Kopf in die Abfalltonnen. Die Sachen werden im Nu stinken.“
Sie wusste, dass sie zu weit gegangen war, hatte sich aber nicht zurückhalten können. Jedes Mal, wenn sie Gus dabei beobachtete, wie er den Müll durchsuchte, als wäre er ein Tier, wurde sie aus unerfindlichem Grund ärgerlich. Die Leute starrten ihn an, worauf er allerdings nicht im Mindesten reagierte. Eigentlich sollte sie auf die Bürger von Kalamoose wütend sein, die ihn verspotteten, doch stattdessen richtete sich ihr Unmut auf Gus. Warum konnte er sich nicht anpassen!
Onkel Harm tadelte sie nicht, sondern runzelte nachdenklich die Stirn und nickte bedächtig. „Gus kontrolliert die Tonnen, weil er die Flaschen daraus einsammelt und in den Laden zurückträgt, um das Pfand zu kassieren.“ Er schwieg einen Moment, damit sich seine Erklärung setzen konnte. „Du hast recht, dass er nicht oft in der Stadt ist und die Schule nur unregelmäßig besucht. Es freut mich, dass dich das beunruhigt, Lilah. Mich beunruhigt es nämlich ebenfalls. Ich habe schon mit deiner Rektorin darüber gesprochen. Sie teilt unsere Meinung, und ab nächster Woche wird Gus regelmäßig zum Unterricht erscheinen.“
Harm rieb mit einem Papier das Fett aus der Pfanne. „Er hat hart gearbeitet, um den Lernstoff aufzuholen. Ich möchte, dass er sich in der Schule so wohl wie möglich fühlt. Sieh mit ihm die Sachen durch, und hilf ihm, welche zu finden, die Jungen in seinem Alter heute tragen. Die Frauen aus der Kirchengemeinde sind zwar großzügig, aber ihr Geschmack hinkt der Zeit manchmal etwas hinterher.“ Er lächelte Lilah an. „Und Gus wird auch etwas Unterstützung brauchen, um wieder Kontakt zu seinen Mitschülern zu bekommen und einen guten Neubeginn zu schaffen.“
Oh, nein!
„Ich habe Mrs. Wilhelm versichert, dass du diese Aufgabe bestimmt freiwillig übernehmen wirst.“
Nein, nein, nein!
Sara verschluckte sich an ihrem Orangensaft, und Nettie sagte freudig: „Das wird ihm gefallen. Lilah kennt praktisch jeden.“
Lilah fühlte sich entsetzlich. Wenn man beliebt sein wollte, gab es Dinge, die man tun konnte oder besser lassen sollte. Und die Freunde und Freundinnen zu zwingen, mit Gus zusammen zu
Weitere Kostenlose Bücher