Die Liebe verzeiht alles
Harms Diensträumen begegnet, wenn sie ihren Onkel besuchte. Gus hatte dort die Zellenböden gesäubert und sich damit sein Taschengeld verdient. Und an einem Samstag, eine Woche nach ihrem fünfzehnten Geburtstag, war sie wieder einmal zu Harm unterwegs gewesen …
Leise öffnete Lilah die schwere Holztür zum Büro des Sheriffs. Falls Onkel Harm am Schreibtisch sitzen und den Papierkram erledigen sollte, würde sie sich wieder davonstehlen. Diese ungeliebte Arbeit machte ihn immer mürrisch, was eine schlechte Voraussetzung dafür war, dass er ihr die Bitte um einen Taschengeldvorschuss erfüllte.
Sie schlich sich durch den kleinen Eingangsbereich des L-förmig geschnittenen riesigen Zimmers und blickte um die Ecke. Ihr Onkel war nirgends zu sehen. Auch die Zellen zu ihrer Linken waren leer. Dann muss ich es wohl später noch einmal versuchen, dachte sie enttäuscht, als sie ein Geräusch aus Richtung des Abstellraums hörte. Offenbar war Harm doch da.
Sie schlenderte auf die Tür zu und blieb auf der Schwelle stehen.
Gus hatte den Kühlschrank geöffnet und bediente sich von dem Käse, den ihr Onkel dort aufbewahrte. Er schob sich eine der getrennt verpackten Scheiben in die Tasche der verschlissenen Jeansjacke und wickelte die andere aus, um sie sofort zu essen. Als Nächstes nahm er das Weißbrot heraus, klappte eine Scheibe mehrfach zusammen und stopfte sie sich in den Mund. Anschließend steckte er eine zweite Scheibe in seine Tasche. Er hatte ganz offenbar Hunger und sorgte für später vor.
Stumm beobachtete Lilah ihn und bemerkte, wie sehr die Jacke schlotterte. Gus war nicht bloß dünn, sondern dürr. Jetzt holte er eine Milchflasche heraus und entfernte den Verschluss. Und während sie ihm beim Trinken zusah, erinnerte sie sich an eine Begebenheit im Laden von Mr. Hertzog. Sie war zufällig Ohrenzeugin geworden, wie Gus ihm erklärt hatte, seine Leute und er hätten genug zum Essen und bräuchten keine Almosen.
Zweifellos würde ihr Onkel ihm sofort etwas geben, wenn er nur einen Ton sagte. Doch Gus würde ihn nie fragen und wahrscheinlich noch behaupten, er hätte gerade eine Mahlzeit gehabt, falls Harm ihm ein Sandwich anbieten sollte.
Wie verschieden wir sind, überlegte sie. Im umgekehrten Fall würde sie es lächelnd nehmen und so tun, als wäre sie eingeladen worden. Gedankenverloren verfolgte sie, wie er die Milchflasche absetzte und dann den Kopf nach vorn sinken ließ. Er wirkte unendlich einsam.
Nein, so unterschiedlich sind wir gar nicht, wurde ihr bewusst, und sie wollte schnell verschwinden. Leider stieß sie dabei gegen das Tischchen nahe der Tür, und die darauf stehende Plastikstatue von Buffalo Bill fiel zu Boden.
Gus blickte auf, bemerkte Lilah und fühlte sich natürlich ertappt. Er hielt die Milchflache noch immer in der Hand und wischte sich mit den Fingern über den Mund, um die verräterischen weißen Spuren zu beseitigen. Zunächst spiegelte sich Überraschung in seinem Gesicht wider, danach Scham und schließlich Wut.
Im nächsten Moment stellte er die Milch in den Kühlschrank zurück und stürzte auf Lilah zu. Bevor sie noch richtig Angst bekommen konnte, hatte er sie bereits gegen die Wand gedrängt und stützte sich links und rechts von ihrem Kopf ab. „Sagst du das deinem Onkel?“
„Das wird ihn gar nicht interessieren.“
Gus schlug mit der flachen Hand gegen die Wand. „Ob du es ihm sagst?“
Nein, sie würde sich von ihm nicht einschüchtern lassen, auch wenn er ein gutes Stück größer war als sie. „Ich habe keine Angst vor dir“, antwortete sie leise und spürte, wie sie wirklich ganz ruhig wurde.
„Wenn du es ihm erzählst …“ Er schwieg unvermittelt. Welche Drohung sollte er ausstoßen? Sie wussten beide, dass er ihr nichts tun würde. Er war derjenige, der Angst hatte.
Lilah schob seinen Arm weg und verschaffte sich einen Fluchtweg. Unbeirrt blieb sie noch einen Moment stehen, damit Gus erkannte, dass sie sich nicht über ihn lustig machen wollte. Dann trat sie einen Schritt von der Wand. „Ich werde nichts erzählen. Niemandem.“ Sie würde nie wieder über Gus tratschen, auch wenn er es ihr wohl nicht glaubte, denn er sah sie weiter misstrauisch an.
Plötzlich bemerkte sie seine bebenden Nasenflügel. Machte er es wie ein Raubtier und versuchte, über seinen Geruchssinn zu ergründen, ob sie eine Freundin oder Feindin war?
Mit einem Mal nahm auch sie seinen Duft nach frischem Heu und Klee wahr. Half er auf einer Farm, wenn er nicht
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