Die Liebe verzeiht alles
die Böden hier säuberte? Oder schlief er vielleicht im Freien? Das würde gut zu ihm passen, überlegte sie und spürte das seltsame Verlangen, ihn einfach dabei zu beobachten. Wie er ausgestreckt dalag und von niemandem behelligt in Frieden den Sternenhimmel betrachtete.
„Aber du solltest besser alles wieder ordentlich zurückstellen“, fuhr sie fort. Sie nickte kurz in Richtung des geöffneten Kühlschranks, bevor sie sich umdrehte. „Und vergiss nicht, die Milch zuzumachen“, ermahnte sie ihn im Gehen. „Onkel Harm verschließt sie immer.“
Ja, dachte Lilah jetzt, diese Begegnung hat alles verändert.
„Ich hätte einer deiner Schwestern die Uhr gegeben.“ Gus sah sie weiterhin vorwurfsvoll und ärgerlich an. „Aber sie hätten mich wohl gleich eingesperrt.“
„Meine Schwestern waren nie unhöflich oder gemein zu dir“, erwiderte sie und hob frustriert die Hände, als er lediglich die Schultern zuckte. „Wolltest du wirklich, dass ich allen Leuten verkündete, wir wären zusammen?“
„Zuerst nicht. Ich musste mir schon genug anhören. Doch nach zwei Jahren hätten wir uns zueinander bekennen können. Meinst du nicht?“
„Wieso hast du nichts gesagt? Du warst nicht eben schüchtern.“
„Wenn du nicht selbst drauf gekommen bist …“
Lilah schüttelte den Kopf. „Du bist schon früher so verdammt selbstgerecht gewesen. Und stur. Nie hast du auf mich oder jemand anders gehört.“
„Dann ist uns beiden ja nun klar, weshalb es mit uns nicht geklappt hat.“
„Bist du nach all den Jahren wirklich noch immer so unversöhnlich?“ Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie die ganze lange Zeit über gehofft hatte, sie würde ihn eines Tages wiedersehen, und er könnte ihr verzeihen.
„Nach all den Jahren habe ich gelernt, dass man manche Lektionen nicht vergessen sollte.“
In ihrem Innern herrschte ein einziges Chaos, und sie begann, nervös an der Unterlippe zu kauen. Ja, es überforderte sie, zu all ihren Problemen auch noch mit Gus konfrontiert zu sein. Und selbst wenn sie mit ihm reden wollte, wäre er nicht bereit, ihr zuzuhören.
Sie würde mit seiner Anwesenheit in Kalamoose leben müssen. Allerdings konnte sie ihm aus dem Weg gehen und sollte dies tun – zumindest, solange er wütend auf sie war. Also würde sie das Diner meiden, in Kalamoose tanken meiden …
Lilah zuckte zusammen, als sie seine Finger an ihrem Kinn spürte und er ihr mit dem Daumen energisch über die Lippe strich. Sie runzelte die Brauen und betrachtete ihn finster.
„Lass das Kauen“, wies Gus sie zurecht. „Sonst bringst du dich irgendwann noch um deinen halben Mund.“
Dasselbe hatte er früher immer zu ihr gesagt, wenn sie aus Unsicherheit an ihrer Lippe gekaut hatte. Aber damals war sein Daumen sanft über ihren Mund geglitten, und seine Stimme hatte warmherzig und neckend geklungen. Die Zärtlichkeit und Fürsorglichkeit hatten sie elektrisiert und zu einem Kuss animiert, bei dem es nicht geblieben war.
Heute war sein Ton alles andere als freundlich, und trotzdem reagierte ihr Körper auf die Berührung, als wäre sie wieder siebzehn. Sei nicht idiotisch, ermahnte sie sich, während ihr heiß wurde und sie flacher zu atmen begann. Forschend sah sie ihm in die Augen, um festzustellen, ob der Ausdruck darin weicher geworden war. Sie suchte nach einem Anzeichen dafür, dass er sich an die Liebe zu ihr erinnerte, bevor er sie zu hassen begonnen hatte.
Ein einziger Blick von Gus, selbst ein heimlicher von der anderen Straßenseite aus, hatte ihr immer das Gefühl vermittelt, geliebt zu werden. Sie hatte dieses Gefühl dringend gebraucht und es sich auf verschiedene Weise von ihren Mitmenschen geholt. Wären die Dinge besser gelaufen, wenn sie sich mit seiner Liebe begnügt hätte?
Er hielt ihr Kinn noch immer umfasst.
Plötzlich empfand Lilah das Bedürfnis, sich zu vergewissern, dass noch irgendetwas aus den vergangenen glücklichen Tagen in ihm lebte. „Warum bist du hier?“
„Das habe ich dir doch schon erzählt.“
„Ja, aber ich glaube dir nicht.“
Gus verstärkte seinen Griff und beugte sich zu ihr, bis seine Lippen fast ihre berührten. „Für uns war jeder Moment falsch, oder, Lilah? Du und ich, wir waren immer eine gefährliche Kombination.“
Sie spürte seinen warmen Atem in ihrem Gesicht, und ihre Haut begann zu prickeln. Aber seine geflüsterten Worte taten ihr in der Seele weh. „Nein, Gus“, widersprach sie leise, als er sich wieder aufrichtete. „Sag nicht, dass wir
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