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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.
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eine Melodie zu summen, die mir bekannt vorkam. Ich überlegte, wo ich sie gehört hatte. Ich pfiff die Melodie nach, und mir fiel ein, dass es der aus fünf Noten bestehende Geheimcode aus dem Film Unheimliche Begegnung der Dritten Art war.
    Ein paar Tage später saß Jasmin allein, ohne ihren Vater, bei uns im Wohnzimmer. Wie es dazu gekommen war? Sarah hatte sie einfach abgefangen, als sie das Mädchen von der Bushaltestelle heraufkommen sah. Normalerweise holte der Vater sie jeden Tag von dort ab, aber diesmal schien er zu tun zu haben.
    Wir luden Jasmin auf eine Tasse Tee ein. Sie blieb stehen, schien zu überlegen, entschied dann, dass es wohl unhöflich war, wenn sie ablehnte, und folgte Sarah ins Haus. Sie redeten über die Schule, über das Leben hier im Dorf, über Männer. Jasmin reagierte auf das letzte Thema nur abstrakt, sie wiederholte mechanisch ein paar Sätze, die sie mit Sicherheit in einem Jugendmagazin gelesen hatte. Ich ging nach nebenan in die Küche und suchte den richtigen Tee aus. Als ich zurückkam, hörte ich Sarah fragen:
    – Hast du eigentlich schon deine …?
    Ich ließ beinahe die Teetassen fallen. Jasmin kicherte scheu, aber dann lachte Sarah freundlich. Es war etwas ganz Normales, eine ganz normale Frage von Frau zu Frau. Die Tassen in meinen zitternden Händen klirrten leise, als ich Jasmins Antwort hörte:
    – Natürlich.
    Es klang sehr erwachsen. Sarah lachte. Jasmin lachte mit, erleichtert darüber, dass Sarah eine Frau war, diesich mit solchen Dingen auskannte. Zuhause hatte sie ja nur ihren Herrn Papa und das Einzige, was der wusste, war, dass sie von Burschen aus dem Dorf belagert wurde. Als ich ins Zimmer trat, sah ich, dass Sarah Jasmin ihre Hand aufs Knie gelegt hatte.
    Ich machte ein Foto von den beiden.
    – So ein liebes Mädchen, sagte Sarah, nachdem Jasmin gegangen war. Ich möchte sie am liebsten …
    Sie vollendete den Satz mit einem theatralischen Seufzen und ging aus dem Zimmer. Wenig später kehrte sie zurück. Ihre Schritte waren langsam und vorsichtig, als müsste sie aufpassen, nicht in Glasscherben zu treten. Ich saß mit dem Rücken zu ihr vor dem PC und versuchte, das Bild, das ich von Jasmin gemacht hatte, zu vergrößern. Es gelang nicht, die Auflösung war nicht gut genug.
    – Felix, sagte Sarah, bitte schau her, aber sag nichts. Ich hab mir Blut ins Gesicht geschmiert.
    Ich drehte mich um.
    – Was?
    – Bitte, sag einfach nichts. Bitte. Schau mich nur an, und hör mir zu. Die Unterhaltung mit der kleinen Puppe hat mich ein bisschen aufgewühlt. Ich bin im Bad gestanden und habe mir überlegt, dass ich wahrscheinlich bald in die Wechseljahre komme. In meiner Familie geht das bei allen Frauen relativ früh los. Und dann hab ich das ja nicht mehr …
    Sie zeigte mit einer entschuldigenden Geste auf das rote Geschmiere auf ihrem Gesicht.
    – So unangenehm es jedes Mal ist, fuhr sie fort, ist es doch lange bei … bei mir gewesen. Und jetzt ist es ebenbald nicht mehr bei mir. Ich wollte es noch einmal genau ansehen. Und als ich da im Bad stand und an diese kleine Puppe dachte, die es erst seit ein paar Jahren hat, da dachte ich mir –
    – Aber Sarah, was machst du denn?
    Ich stand auf. Mit einem Taschentuch näherte ich mich ihrem Gesicht.
    – Nein! Sieh doch hin. Es ist absolut perfekt. Sieh doch hin …
    Sie zog mich zu einem Spiegel. Ich hatte es bisher überhaupt nicht wahrgenommen, aber in ihrem Spiegelbild sah ich es auf einmal. Es war so, als wären meine Augen scharf gestellt worden, und vielleicht lag es auch daran, dass Sarahs Gesicht nun spiegelverkehrt war – jedenfalls blickte mich ein faszinierendes Wesen an, ein zerschundener Engel, ein androgynes, verletzliches Flugtier, das sich bei der Bruchlandung auf der Erde das halbe Gesicht abgeschabt hat. Sie sah so aus wie David Bowie auf dem Cover von Aladdin Sane , mit diesem seltsam schillernden Fleck quer über dem Gesicht, eine traurig zu Boden blickende Klagegestalt – bald nicht mehr bei mir –, wir standen nebeneinander und schauten in den Spiegel. Sarah verströmte einen unangenehmen Geruch, aber sie schien entspannt und friedlich. Kurz darauf löste sie den Augenblick auf, trat beiseite und ging sich waschen. Der Geruch blieb im Zimmer. Ich öffnete ein Fenster.
    Wenig später sah ich sie über ihr Notizbuch gebeugt. Sie lächelte auf die Buchseite herab und schrieb. Der kleine Kugelschreiber machte dasselbe Geräusch wie ein Nachtfalter, der sich in einem Lampion verfangen hat

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