Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
eigenartig, aber es verlangt sie danach, ihm zu sagen, dass er sein Geld in Zukunft nicht mehr für ihre Dienste ausgeben soll. Er soll vorsichtiger mit sich umgehen, er soll sich nicht gehenlassen. Und er soll zu Ende studieren und sein Leben auf die Reihe kriegen. Agathe legt eine Hand auf seinen Hinterkopf und beginnt leise mit ihm zu sprechen, obwohl sie weiß, dass er inzwischen tatsächlich eingeschlafen ist. Ihr Tonfall ist dabei immer noch professionell; sie hat sich unter Kontrolle.
– Weißt du, flüstert sie, ich finde, du solltest das nicht mehr tun. Du solltest nicht jedes Mal in die Kälte raus, wenn du … Du solltest wirklich versuchen, dein Studium zu beenden, ich meine wirklich , im Ernst. Anstatt nächtelang …
Nach einer Stunde hebt sie Philipps schlafenden Kopf von ihrem Schoß und legt ihn auf das Sofa. Sie muss dringend auf die Toilette. Bei dieser Gelegenheit macht sie auch in seinem Badezimmer ein wenig sauber. Der Spiegel ist so schmutzig, dass sie sich kaum wiedererkennt.
In den frühen Morgenstunden weckt sie den Kunden, bekommt von ihm die zusätzlichen dreißig Euro. Ohne langes Suchen. Er verabschiedet sich von ihr an der Tür.
– Lass dich noch einmal drücken, sagt sie und umarmt ihn.
– Ah, geh, sagt er geschmeichelt. Lass, du brichst mir ja –
Dann geht ihm die Luft aus, weil Agathe ihn wirklich zusammendrückt, so fest sie kann. Sein Mundgeruch ist scharf und säuerlich, typisch für einsame Männer, die sich die ganze Nacht mit Träumen herumschlagen müssen, die sie niemals jemandem erzählen werden.
Sechs Uhr früh. Wenn sie um diese Tageszeit allein durch die leeren Straßen der Randbezirke geht, verfällt Agathe oft auf sonderbare Gedanken. Sie denkt darüber nach, wie lange sie noch auf der Erde sein wird, wie lange ihr letzter Kunde wohl noch nachts zu Straßenmüttern geht und die dunkelgoldene Stadtbahn noch so unbeschwert dahingleiten wird, als gebe es gar keine Probleme auf der Welt. Und wie lange wird es wohl noch dauern, bis die Sonne wieder in einem völlig wolkenlosen Himmel aufgeht, ungestört von dem künstlichen Moiréschleier, der jeden Morgen über den europäischen Metropolen zum Schutz der Menschen erzeugt wird?
Das Problem der Zeit hat sie schon immer beschäftigt. Es ist eng verknüpft mit dem Problem der Hoffnung. Inzwischen kennt Agathe so gut wie alle Hoffnungen, die man bedienen muss, wenn man heutzutage überleben will. Nicht alle ihrer Kolleginnen haben das begriffen. Irma weiß es natürlich, vielleicht sogar besser, als sie es zugeben will. Agathe ist sich sicher, dass auch Irma eine Bleibe für diese Nacht gefunden hat. Sie kommt fast immer als Letzte in die Seitengasse zurück, sieht glücklich und zufrieden aus und erzählt heitere Anekdoten aus dem Leben, an dem sie für die Dauer einer Nacht teilgenommen hat. Agathe muss an das eine Maldenken, als Irma ihnen gezeigt hat, was ein Kunde für sie gebastelt hatte: ein kleines Raumschiff aus Holz, das im Fall eines Atomkrieges alle Mütter der Erde (oder alle glücklichen Familien? Agathe kann sich nicht mehr erinnern) mit sich nehmen und auf einem anderen, weit entfernten Planeten in Sicherheit bringen würde. Irma hat ihnen die seltsamen Buntstiftzeichnungen beschrieben, die überall in der Wohnung des Kunden zu sehen waren. Zeichnungen von einer kleinen, grünen Kugel, die friedlich im All dahintreibt.
Als Agathe an der mit braunen Brettern vernagelten Ladenfront des Fischrestaurants vorbeikommt, schaut sie in die Höhe und entdeckt über den Dächern den fahlen Mond der frühen Morgenstunden, ein ernstes Metallgesicht hinter Wolken. Ein Raumschiff aus Holz, denkt sie und muss über so viel Dummheit lächeln. So ein kleiner Kindskopf. Ein Raumschiff für alle – ja, was immer es war.
Die Leiche
Als Markus Kellmer von der Arbeit nach Hause kam, fand er auf dem Teppich seines Wohnzimmers eine nackte Frau. Ihr zerzaustes Haar erinnerte ihn an die Art, wie er als Kind Krähennester oder Baumwipfel gezeichnet hatte, ihre Haut glänzte, als wäre sie glasiert, und als Markus sie vorsichtig auf den Rücken drehte, um sie anzusprechen und so vielleicht herauszufinden, wer sie war und was sie in seiner Wohnung suchte, stellte er fest, dass sie tot war.
Sofort ging er zum Fenster und zog die Vorhänge zu. Eigentlich war es dafür viel zu früh, draußen war es noch hell. Der Frühling hatte gerade erst vor ein paar Tagen begonnen, und die Sonne würde erst in einer Stunde, so gegen sechs
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