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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.
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irgendwie. Komisch. I suppose – das ist doch klarer und greifbarer, oder?

Die Entschuldigung
1
    Wie ein Schneeball, der einen Hang hinunterrollt und dabei stetig an Masse zunimmt, so kam es ihm vor, als er in der Mittagspause sein mit Lachs und Gurken belegtes Sandwich kaute. Er spülte mit Mineralwasser nach, aber davon wurde alles nur noch unförmiger und klumpiger. Schließlich verlor er die Geduld mit dem viel zu großen Bissen in seinem Mund und spuckte ihn in eine Serviette. Braun und feucht leuchtete die zerkaute Masse aus dem durchscheinend kreppartigen Weiß der Serviette hervor. Ein widerlicher Anblick.
    Anton stand auf und warf die Serviette in den Müllkorb.
    Die Mittagspause eines furchtbaren Arbeitstages. Seine Sekretärin war heute Morgen in sein Büro gekommen, hatte sich mit einem Herr Wolf, entschuldigen Sie bitte die Störung, aber es geht wieder um den Neuen auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch gesetzt und ihm eine entsetzliche Geschichte erzählt. Die Geschichte einer Nebenfigur, die jetzt keine mehr war.
    Nebenfiguren sind das Traurigste, was man sich vorstellen kann. Ihr Schicksal ist von allen das grausamste und entsetzlichste. Sie kommen schon im Zustand der Entbehrlichkeit auf die Welt, werden später erschossen, verbrannt, in ein dem Verglühen geweihtes Raumschiffgesetzt und angeschnallt oder gleich direkt in den Hades geworfen. Sie sind die Überbringer wichtiger Nachrichten, deren Inhalt sie nicht einmal kennen. Sie leben ein Leben außerhalb aller wesentlichen Entscheidungen, sie sind zu nichts nütze und für nichts gut, also im Grunde dasselbe wie Wörter, von denen es Tausende gibt, Millionen, und die man gegebenenfalls neu erfinden kann, wenn ein altes kaputtgegangen ist oder nicht mehr verwendbar erscheint. Sie werden missachtet, gequält, erniedrigt. Sie werden nachts vergewaltigt, ohne dass die Welt dadurch einen Riss bekäme. Und sie sind leichter ersetzbar als Wasser oder ein Stück Kreide. Man vergisst sie sofort. Sie verderben niemandem den Appetit.
    Franz Lukas war keine Nebenfigur mehr.
    – So eine Behandlung hat niemand verdient, erklärte Frau Nusch. Wahrscheinlich geht es allen Neuen so, aber das, was die mit ihm gemacht haben …
    Anton musterte seine Sekretärin. Sie war heute wieder besonders auffällig geschminkt. Er hatte oft mit dem Gedanken gespielt, sie zu verführen, sich aber jedes Mal beherrschen können. Er wollte ihre Stelle nicht aufs Spiel setzen.
    – Sicher, sagte er und blickte auf die Schreibtischplatte, in der sich ein von nirgendwoher kommendes Licht reflektierte. Das ist immer eine sehr schwierige Zeit. Neu anzufangen in einem Betrieb.
    – Aber mit einer Bierflasche, Herr Wolf, ich meine …
    – Ich verstehe schon, was Sie meinen.
    Aber er hatte im Grunde gar nichts verstanden. Ihm war der neue Mitarbeiter in der letzten Zeit hie und da über den Weg gelaufen, und manchmal hatte er ihn abends an der Bushaltestelle gesehen; er wartete sehrlange auf einen nur selten vorbeikommenden Bus, der entlegenere Bezirke der Stadt mit Menschen belieferte. Und dann dies: Gestern Abend, nach der Arbeit, war der Neue, dessen vollständiger Name tatsächlich Franz Lukas lautete (wie viele von Natur aus Untergebene besaß er nicht einmal einen wirklichen Nachnamen, nur zwei Vornamen, deren Reihenfolge sich niemand merken konnte), von seinen Kollegen vergewaltigt worden. Nicht direkt vergewaltigt. Sie hatten ihn ausgezogen, ihn gezwungen, den schmutzigen Boden zu lecken und einen seiner Muster-Entwürfe für Badezimmerkacheln zusammenzufalten und zu kauen. Anschließend hatten sie den nackten, schreienden Franz Lukas auf ein Kopiergerät gesetzt, um seinen Hintern zu kopieren, aber das Gerät hatte nicht funktioniert, also hatten sie ihm eine geöffnete Bierflasche in den Arsch gesteckt und ihn anschließend daraus trinken lassen.
    Die leere Bierflasche stand immer noch im Gang, gleich hinter der Eingangstür. Anton hatte sie schon heute Morgen gesehen und sich ein wenig gewundert.
    Ihm war durchaus nicht entgangen, dass die Kollegen den Neuen in der letzten Zeit regelmäßig aufgezogen und gedemütigt hatten. Das war unangenehm, aber er hatte gehofft, es würde nicht so schlimm werden, dass es bis zu ihm durchdrang. Doch jetzt war genau das passiert, und er wusste, dass es diesmal nicht mehr von allein weggehen würde. Franz Lukas würde nicht mehr mit dem Hintergrund verschmelzen, so wie er es bisher immer getan hatte. Er war keine Nebenfigur mehr, dafür

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