Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
wenig mehr Respekt entgegengebracht wurde. Auch wenn er immer noch gute Entwürfe ablieferte, musste Lukas doch unter dieser Situation leiden. Vielleicht spielte er mit Selbstmordgedankenoder plante demnächst einen Amoklauf mit Pumpgun oder Kettensäge.
Anton versuchte sich den schweigsamen, mageren Mann vorzustellen, wie er schwer bewaffnet den Korridor entlangschritt, in seinen Augen das wahnsinnige Funkeln eines Massenmörders, die Würde einer unterdrückten Kreatur. Glassplitterregen, Wände mit Einschusslöchern, blutige Stiefelspuren, verzerrte Gesichter.
An diesem Tag unternahm Anton als Erstes einen kurzen Inspektionsrundgang. Er hatte so etwas zwar noch nie getan, aber als Chef, fand er, stand ihm dieses Recht durchaus zu. Er blieb bei den Computerbildschirmen und Zeichenbrettern stehen und kommentierte das, was er dort sah. Manchmal war es etwas, was gar nichts mit einem anstehenden Projekt zu tun hatte, etwa das Fenster eines E-Mail-Programms, in dem Penisvergrößerer ihr Unwesen trieben. Aber auch das bedachte Anton mit einer kurzen Reaktion, einem Nicken oder einem missbilligenden Knurren.
Die meisten Mitarbeiter beachteten ihn nicht weiter. Nur manche, die schon seit Jahren für ihn tätig waren, wie Altenberger oder Florian Graf, hielten inne und verfolgten jede seiner Bewegungen.
Als er an den Schreibtisch von Franz Lukas kam, fiel ihm zuerst auf, wie eng und eingeschränkt die Verhältnisse dort waren. Lukas hatte nicht einmal genug Platz, um seinen Laptop hinzustellen. Anton forderte Florian Graf auf, mit seinem Stand-PC ein wenig zur Seite zu rücken, es gebe genug Platz für alle. Graf gehorchte wortlos. Franz Lukas besaß nun ein neues, etwa zehn Zentimeter breites Stück des Tisches, das ganz allein ihm gehörte.
Anton kontrollierte, womit sich Lukas gerade beschäftigte. Es waren Kachelmuster (für die schien er eine besondere Begabung oder Vorliebe zu haben), sehr sensible, sich wiederholende Muster, die meist aus sich in extremen Winkeln schneidenden Linien bestanden, immer einen Schritt von verwirrenden Moiré-Effekten entfernt.
Es waren schöne Kacheln, fand Anton. Und er sagte es.
Niemand hatte ihn verstanden, da er sehr leise gesprochen hatte, also wiederholte er es.
– Wunderschön, dieses Muster. Wirklich.
Franz Lukas drehte sich zu ihm um.
– Ich finde, das ist einer der besten Musterentwürfe, die ich je gesehen habe, sagte Anton.
Florian Graf schaute jetzt neugierig auf den Bildschirm seines Kollegen, blinzelte, nickte dann und widmete sich wieder seinen Aufgaben.
– Na, jetzt schauen Sie mich nicht so an, sagte Anton. Ich finde das Muster wirklich gut.
– Danke.
Die Stimme gehörte nicht zu einem erwachsenen Mann. Es war die Stimme eines Jugendlichen, der unsicher und zerzaust den ersten Tag in einer neuen Schule erlebt. Und jetzt begrüßen wir alle unseren neuen Mitschüler – Franz. Hallo Franz.
Anton blickte zu Boden, räusperte sich.
– Na dann, sagte er. Gut. Gut.
Und er zog sich in sein Büro zurück.
Ihm wurde bald klar, dass er auf ganzer Linie versagt hatte, denn Frau Nusch kam gleich am nächsten Morgenzu ihm und erzählte – nun ja, es war alles nur noch schlimmer geworden. Sie hatten Franz Lukas, als er abends an der Bushaltestelle stand und trübsinnig in den Schnee starrte, wieder schikaniert und misshandelt. Er hatte anfangs nur dazu gelächelt.
– Ist wohl eine Überlebenstechnik, sagte Frau Nusch.
Anton wartete, so wie ein Kind eine gerechte Strafe erwartet, auf ein neues entsetzliches Detail, das Frau Nusch bestimmt gleich erwähnen würde. Gleich würde es kommen, eine Schrecken erregende Einzelheit in Form eines Gegenstands oder einer Handlung. Womit hatten sie ihn wohl diesmal vergewaltigt?
– Was ist jetzt wieder passiert?
– Sie haben ihn … in den Schnee geworfen.
Sie sagte das in demselben Tonfall, in dem sie auch die Bierflasche erwähnt hatte.
– Das ist alles?, fragte Anton.
– Ihn und seine Mappe.
– Ich verstehe.
– Einer hat ihn … mit dem Stiefel, so …
Sie stand auf und hob ihren Fuß, der in einem niedlich femininen Turnschuh steckte.
– So!, machte sie und stampfte etwas Unsichtbares in den Boden.
Anton fragte sich, warum sie ihm diese Szene auch noch vorspielen musste. Es hätte doch genügt zu sagen: Einer hat ihn mit dem Stiefel in den Schnee getreten.
– So, so, so, machte Frau Nusch unterdessen und trampelte auf dem Fußboden herum.
Ihre Gesichtszüge waren verzerrt, Hass und Schadenfreude
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