Die Liebenden von Leningrad
wohl getan?« »Ich habe ja nie behauptet, dass du nicht Mitleid mit mir empfunden hast, Alexander.«
»Mitleid?«, rief er aus. »Weißt du was, Mitleid ist noch viel zu gut für dich. Das ist der Preis dafür, dass du dein Leben als Lüge lebst. Und es gefällt dir nicht besonders, nicht wahr?« »Nein, ich hasse es«, gab Tatiana zu. »Aber da du weißt, dass ich es hasse, warum zum Teufel bist du dann hierher gekommen? Um mich noch mehr zu quälen?«
»Ich bin hierher gekommen, weil ich nicht wusste, dass Dascha tot war!«, schrie er. »Du hättest mir wenigstens eine verdammte Zeile schreiben können!«
»Also bist du tatsächlich gekommen, um Dascha zu heiraten«, sagte Tatiana ruhig. »Warum hast du das denn nicht gleich gesagt?«
Alexander stöhnte auf und ballte die Fäuste. »Tatiana, du bist ja völlig außer dir«, stellte er dann fest. »Ich habe dir vom ersten Tag an gesagt, dass wir so nicht leben können, dass wir einen anderen Weg finden müssen. Ich wollte den anderen die Wahrheit sagen und mit den Konsequenzen leben. Du warst diejenige, die das ablehnte. Mir hat das zwar nicht gefallen, aber ich habe mich darauf eingelassen.« »Nein! Das hast du nicht getan, Alexander! Wenn du dich darauf eingelassen hättest, wärst du nicht weiter jeden Tag gegen meinen ausdrücklichen Wunsch zu Kirow gekommen.« »Gegen deinen ausdrücklichen Wunsch?«, fragte er und taumelte einen Schritt zurück.
Tatiana schüttelte den Kopf. »Du bist unglaublich. Vermutlich hast du mein Verhalten damals falsch gedeutet. Es hätte sich doch jede nach dir umgedreht, Alexander Barrington, so gut wie du aussahst, groß gewachsen, kräftig und mit einem Gewehr über der Schulter! Glaubst du, bloß weil ich, eine Siebzehnjährige, dich mit großen Augen und offenem Mund angestarrt und bewundert habe, hätte ich für immer in deiner Nähe sein müssen? Und du hättest dafür das Recht, meine Schwester zu bitten, dich zu heiraten? Glaubst du, ich bin zu jung, um nicht daran zu zerbrechen? Glaubst du, ich brauche nichts von dir und du kannst immer nur nehmen, nehmen, nehmen ...« »Das glaube ich keineswegs und ich habe auch nicht immer nur von dir genommen«, erwiderte Alexander gepresst. »Du hast alles genommen - außer dem einen!«, schrie Tatiana. »Und das hast du nicht verdient!«
Er kam ihr ganz nahe und zischte: »Das eine hätte ich mir auch nehmen können! Nichts von alledem wäre geschehen, wenn du von Anfang an auf mich gehört hättest. Ich habe dir gesagt, dass es besser ist, es den anderen zu erzählen.« »Und ich habe dir gesagt«, erwiderte Tatiana heftig, »dass meine Schwester mir wichtiger ist als deine Bedürfnisse, die ich sowieso nicht verstehe. Ich wollte nur; dass du meine Wünsche respektierst. Aber du bist weiterhin zu uns gekommen, und das hat mich zerrissen, und als ob das nicht genug gewesen wäre, bist du auch noch ins Krankenhaus gekommen und hast mich zerstört, und dann in der Isaakskathedrale ...« »Ich habe dich nicht zerstört«, unterbrach er sie. »Doch, du hast mein Herz auf ewig zerstört. Erzähl mir doch nicht, dass ich mit einer Lüge leben wollte! Ich habe nach der einzigen Wahrheit gelebt, die ich kannte. Ich wollte meine Familie nicht für dich opfern. Dafür habe ich gekämpft!« »Das war deine einzige Wahrheit, Tatiana?«, fragte Alexander ungläubig.
Sie schlug die Augen nieder. »Nein«, sagte sie dann. »Du bist immer wieder zu mir gekommen, und ich habe dich nicht entschieden genug abgewiesen. Aber wie sollte ich auch? Ich war ...« Sie brach ab. »Für mich gab es nur dich. Deshalb wäre ich mit einem kleinen Zeichen zufrieden gewesen. Wenn du mich nach deiner Liebeserklärung an Dascha damals im Lastwagen angesehen hättest, hätte mir das genügt. Ein Wort an mich in deinem Liebesbrief an sie, und es wäre genug gewesen. Aber du hast nicht genug für mich empfunden ...« »Tatiana!«, schrie er auf. »Du kannst mir alles vorwerfen, aber wag es nicht, mir zu sagen, dass ich nicht genug für dich empfinde! Das ist eine Lüge, und sie wird nicht wahrer dadurch, dass du sie aussprichst. Seit dem Tag, an dem ich dich kennen gelernt habe, habe ich alles nur getan, weil ich dich liebe, und wenn du weiter solche Dinge sagst, dann ...« Alexander sammelte seine Sachen ein und rannte davon.
Tatiana stürzte hinter ihm her und schrie; »Shura, bitte bleib stehen! Bitte!«
Sie konnte ihn jedoch nicht einholen, und er verschwand im Wald. Sie rannte den ganzen Weg nach Hause.
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