Die Liebenden von Leningrad
nicht. »Wie viele Tage bleiben uns noch, Tatiana?«, fragte er mit erstickter Stimme.
Sie wandte sich rasch von ihm ab und blickte über den Fluss. »Ich weiß nicht«, flüsterte sie, »ich habe nicht nachgezählt.« Plötzlich sagte Alexander: »Ich glaube, jetzt lese ich dir etwas vor. Oh, hier ist eine Passage, die dir bestimmt gefällt.«
»Heiraten? Ich? Ob das wohl geht?
's wird schwer sein, doch ich kann's verschmerzen;
Bin jung ja und gesund so weit,
Zu schaffen Tag und Nacht bereit,
Wird mir schon irgendwie besorgen
Ein trautes Heim, so klein es sei,
Wo auch ...«
Er schwieg. Tatiana wusste, dass der Name der Frau in Puschkins Gedicht Parascha war. Sie wartete geduldig, dass er weiterlas. Das Herz tat ihr weh. Leiser fuhr Alexander fort:
» Wo auch Tatiana wär geborgen, Und sind erst ein, zwei Jahr' vorbei, find ich ein Pöstchen, überlasse Tatiana die Familienkasse Und Kinderaufzucht, das ist klar ... So wolln, bis dass der Tod uns scheide, Denn leben Hand in Hand wir beide, Bis uns begräbt der Enkel Schar ...«
Er brach ab und schlug das Buch zu.
»Lies weiter, Soldat«, sagte Tatiana und griff nach der Angelrute. »Lies bitte weiter.«
»Nein«, erwiderte Alexander. Tatiana drehte sich nicht zu ihm um. Stattdessen rezitierte sie aus der Erinnerung:
»So träumte er. Und war voll Trauer In dieser Nacht, und wünschte sich, Dass nicht so heult der Wind, der Schauer Des Regens nicht so fürchterlich Ans Fenster schlüg...«
Danach schwiegen sie, bis sie in die Hütte gingen. Als sie spät am Abend von Naira zurückkamen, entzündete Alexander ein Feuer. Tatiana kochte Tee, und sie setzten sich nebeneinander ans Feuer. Er war schweigsamer als gewöhnlich. »Shura«, sagte sie leise, »komm her. Leg deinen Kopf in meinen Schoß. Wie immer.«
Zärtlich und voller schmerzlicher Zuneigung streichelte Tatiana ihm übers Gesicht. »Was ist los, Soldat?«, flüsterte sie. »Was bekümmert dich?« »Nichts«, erwiderte er.
Tatiana seufzte. »Willst du einen Witz hören?« »Nur, wenn er gut ist.«
»Zwei Fallschirmspringer kommen zum Fallschirmpacker.
>Hey<, fragen sie, >sind deine Fallschirme in Ordnung?< - >Nun<, erwidert er, >es hat sich noch niemand beschwert<«
Fast musste Alexander lachen. »Lustig, Tania.« Er sprang auf und ergriff ihre Tasse. »Ich gehe rauchen.«
»Rauch hier und lass die Tassen stehen. Ich räume sie später weg.«
»Ich will aber nicht, dass du sie immer wegräumst«, erwiderte er.
Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum und erwiderte nichts. Bevor er ging, fügte er hinzu: »Und warum musst du Vova bei Tisch immer bedienen? Hat er sich die Hände gebrochen? Kann er sich nicht selbst etwas nehmen?« »Shura, ich bediene doch alle! Und dich zuerst. Wie sähe es denn aus, wenn ich allen außer ihm das Essen auf den Teller gäbe?« »Mir ist es egal, wie es aussähe. Ich will nur nicht, dass du es tust.«
Sie antwortete nicht. War er böse auf sie? Tatiana blieb vor dem Feuer sitzen. Abgesehen vom Feuerschein und dem Halbmond am Himmel war es dunkel. Die Luft roch nach frischem Wasser, brennendem Holz und Nacht. Sie wusste, dass Alexander auf der Bank an der Hütte saß und dass er sie beobachtete. Das tat er jetzt immer öfter. Er beobachtete sie und rauchte dabei. Ständig rauchte er. Sie drehte sich um. Er saß da, rauchte und beobachtete sie. Tatiana stand auf und ging zu ihm hin. Sie stellte sich vorsichtig auf seine Füße und fragte schüchtern: »Shura ... wollen wir hineingehen?«
Er schüttelte den Kopf. »Geh schon mal vor. Ich bleibe noch ein Weilchen hier und warte, bis das Feuer heruntergebrannt ist.«
Nachdenklich kaute Tatiana auf ihrer Unterlippe. »Na, geh schon«, forderte Alexander sie auf. Sie trat näher an ihn heran und hockte sich zwischen seine Beine. Sein Atem ging rascher: Sie rieb ihm über die Beine und sagte leise: »Was möchte ich?« Alexander schwieg.
Tatiana wagte noch einen Vorstoß. »Was möchtest du?« »Deinen Mund auf mir spüren«, erwiderte er gepresst. »Mmm«, sagte sie und öffnete seine Hose. »Ist es zu dunkel? Oder kannst du mich sehen?«
»Ich kann dich sehen«, erwiderte er und packte ihren Kopf, als sie ihn in den Mund nahm.
»Shura?«
»Mmm?«
»Ich liebe dich.«
In der Dämmerung sammelte Alexander Brennholz im Wald. Tatiana rief nach ihm, aber er antwortete nicht. Dabei hätte sie ihn gern noch gesehen, bevor sie zu Naira lief. Sie stellte ihm einen Teller mit Bratkartoffeln auf die Bank und legte zwei
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