Die Liebesangst - Ragde, A: Liebesangst
Weinkarton getrunken und weiche Käsechips aus einer lange auf dem Couchtisch vergessenen Schüssel gegessen hatte. Der Geruch in dem grell beleuchteten Trainingsstudio löste Brechreiz in ihr aus, während Sola sich über Fehlbelastung und Kreuzprobleme und die Gefahr von Thrombosen im Bein verbreitete, weil sich beim Spielen das ganze Actionblut im Oberkörper befand, sie machte sich Notizen, während sie schluckte und schluckte und versuchte, an Chlor und Zitrone und plätschernde Gebirgsbäche zu denken, was ihren Kotzreflex immer dämpfte.
Trainingsstudios waren jedenfalls kein gangbarer Weg.
Sie stand auf, zog ihren Morgenmantel an, ging ins Netz und googelte Pilates. Das sah idiotisch aus. Auch, wenn sie es allein und hinter vorgezogenen Vorhängen machen könnte. Auf einem dicken Ball herumwackeln. Nein. Und das, obwohl der Ball silbern war und eigentlich einen ziemlich guten Anblick bot. Sie musste sich etwas anderes überlegen. Sie kochte sich eine Tasse grünen Tee im Licht des Küchenventilators und schaltete das Radio ein, sie wiederholten ein nächtliches Programm und spielten Smoke on the Water von Deep Purple, warum war sie gerade jetzt aufgewacht und hatte gedacht, dass sie ungesund lebte?
Es war sicher nicht immer von Vorteil, in einer Wirklichkeit zu leben, in der sie ununterbrochen mit Nachrichten in einem Maße überhäuft wurde, das das Fassungsvermögen anderer Menschen weit überstieg. Sie glaubte, es könne etwas sein, das sie über Bauchspeicheldrüsenkrebs aufgeschnappt hatte, eine Diagnose, die einem Todesurteil gleichkam. Sie wusste nicht einmal, wo diese verdammte Drüse saß. Sie tat einen Teelöffel Heidehonig in den Tee und nahm zwei zusätzliche Vitamintabletten. Sie wollte nicht an solche Dinge denken, sie hasste es, an solche Dinge zu denken, und jetzt war sie hellwach, es war drei Uhr, die einzige Möglichkeit war eine Runde Telefonsex, zwei Fliegen mit einer Klappe, eine Stimme im Ohr und ein wenig energische Körperarbeit, das müsste Pilates doch um Längen schlagen können.
30
Sie hatte drei Männer für Telefonsex. Einer war verheiratet, den rief sie nie an, er meldete sich, wenn er allein zu Hause war oder sich auf Reisen in einem Hotelzimmer gelangweilt durch die Pornokanäle zappte. Die beiden anderen waren alte One-Nighter, der eine sogar eher ein Three-Nighter. Sie sagten ihr Bescheid, wenn sie in feste Beziehungen gerieten, im Moment lebten sie aber beide allein. Sie brauchte nur eine SMS zu schicken: »Wach?«
Jetzt fragte sie die beiden Unverheirateten, es war wenig wahrscheinlich, dass beide gleichzeitig wach waren. Der eine antwortete sofort, ja, er sei wach. Er arbeitete als Sicherheitschef im Bohrfeld Heidrun. Sie hatte ihn kennengelernt, als die Band Turboneger dort draußen einen Auftritt gehabt hatte, anlässlich einer CD-Präsentation, über die sie berichten sollte. Sie hatte sich hart und unverletzlich gefühlt, als sie dort im Rettungsanzug herumstapfte, während der Fotograf an einem Kran hing, um aus der Vogelperspektive Bilder zu machen. Der Sicherheitschef war außer sich über den prominenten Besuch, sie wollte wissen, wie sie hier eigentlich lebten, und er fragte, ob sie die königlichen Gemächer sehen wollte, obwohl das gegen die Vorschriften verstieße.
Das wollte sie sehr gerne. Vor allem, wenn es gegen die Vorschriften verstieß.
Schmales Bett und offene Pornozeitschriften auf dem Boden, ein riesiges Foto eines Seeadlers an der Wand, aber saubere Bettwäsche, sie fickten im Stehen, sie mit dem einen Fuß auf sein Bett gestützt, die abgestreiften Rettungsanzüge und Plastikhelme bedeckten fast den gesamten Fußboden. Er roch nach Maschinenöl und Rauch und solidem Männerschweiß, und er war einsam und supergeil.
31
Er rief an, noch ehe sie ihren Tee ausgetrunken hatte. Er machte 14/14, vierzehn Tage auf der Bohrinsel, vierzehn an Land, und deshalb fragte sie als Erstes, ob er im Dienst sei.
»Das bin ich.«
»Wie geht’s dem Seeadler?«
»Der hängt hier und kämpft mit dem Gegenwind. Und was machst du so?«
»Trinke Tee und überlege, ob ich ungesund lebe.«
»Ungesund? Scheiße, damit kenn ich mich aus.«
»Ich habe mir überlegt, ob ich mir einen Pilatesball anschaffen sollte, aber der sieht total bescheuert aus.«
»Kauf dir einen Schrittzähler«, sagte er. »Das ist eher dein Typ Trainingsgerät.«
Er lachte. Sie sah ihn vor sich in der kleinen Kammer in dem riesigen technologischen Geschöpf auf hohen Beinen, mitten im
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