Die Liebesangst - Ragde, A: Liebesangst
Oder ist es vielleicht schon zu spät?«
»Zu spät? Wie meinen Sie das?«, fragte der junge Verkäufer.
»Ich habe noch nie … Sport getrieben. Aktiv, meine ich. Eine richtige Sportart eben, aber ich dachte, es könnte vielleicht an der Zeit sein. Wenn es noch nicht zu spät ist.«
Sie beobachtete sich selbst, wie sie ihn aufforderte, auf die Sache mit dem Alter einzugehen. Es war pathetisch, sie hörte, wie blöd es klang, und beschloss, die Klappe zu halten. Er führte sie zu der Wand, an der die Stöcke hingen, und fing an, ausgiebig über die Länge der Stöcke zu erzählen, es gab Teleskopstöcke, deren Länge man selbst justierte, abhängig von Körpergröße und Terrain, ob es bergaufging oder bergab. Sie sah in sein Gesicht, während er redete, er war braun gebrannt, hatte einen Dreitagebart, leuchtend blaue Augen und trug ein knallweißes T-Shirt mit V-Ausschnitt unter einem weinroten Sportpullover. Sie betrachtete seine Hände, die einen Stock nach dem anderen packten und drehten, kurze und gebräunte Hände mit rosafarbenen Nägeln, er war kein Nägelkauer und hatte keinen einzigen Trauerrand, um das rechte Handgelenk wand sich eine dünne Lederschnur, so, wie Morten Harket von A-ha sie früher um den Hals getragen hatte.
»Die nehm ich«, sagte sie.
Sie konnte ihn nicht länger ansehen, plötzlich hatte sie das alles so satt. Sie würde anfangen, Sport zu treiben, wie andere Menschen das auch taten, normale Leute mit normalen Leben, was für ein unbeschwertes Leben die führen mussten mit Routinen und der Gewissheit, dass ihr bisher gelebtes Leben genauso weitergehen würde. Vielleicht lag Sigrid ja doch nicht so ganz daneben.
»Möchten Sie die Quittung?«, fragte er.
»Nein, die können Sie wegwerfen.«
Sie erwiderte seinen Blick, als sie sich zum Gehen umdrehte, er sah ihr ein wenig zu lange in die Augen, aber dann war sie es, die sich untypischerweise abwandte. Er musste sich doch zu Tode langweilen, in dieser öden Sportabteilung herumzulungern, und wäre wahrscheinlich eine leichte Beute. Dieser Gedanke schoss ihr für den Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf, aber sie hatte keinen Nerv, etwas zu unternehmen. Er kam hinter dem Tresen hervor und öffnete ihr die Tür.
»So alt bin ich nun auch wieder nicht«, sagte sie. »So war das nicht gemeint.«
Er grinste und machte mit der braunen Hand ohne Trauerränder unter den Nägeln das V-Zeichen.
»Gute Tour«, sagte er.
Die Stöcke lagen zusammengeklappt in einer Einkaufstüte, als sie zur Olavshalle ging, um den Sänger Bjørn Eidsvåg zu interviewen, der vor seinem Konzert am selben Abend einen Soundcheck anberaumt hatte. Sie rief den Fotografen an, der war schon vor Ort.
»In fünf Minuten bin ich da«, sagte sie und fühlte sich schon viel fitter, mit den Stöcken in der Tüte.
35
Auf der Bühne wurde gerade alles aufgebaut. Bühnenarbeiter rannten herum und schwitzten. Eidsvåg war energisch und sprach offen über das Persönliche in seinen Texten, über Lebenserfahrung und Lebensmut, darüber, trotz der Niederlagen an Stärke zu gewinnen, allein zu sein oder zu wagen, sich voll und ganz auf einen anderen Menschen einzulassen. Er bezeichnete seine Familie als »kleine Firma«, Ingunn notierte alles in Stichworten, ihre eigenen Fragen hatte sie oben auf die Seite des Spiralblocks geschrieben. Sie saßen am Bühnenrand und tranken Kaffee. Der Fotograf, einer von der alten Schule, der nie die Lust verlor und für alles Begeisterung aufbringen konnte, bewegte sich so diskret um Eidsvåg herum, wie das mit einem fleißig arbeitenden Blitz überhaupt nur möglich war. Eidsvåg blieb wie ein echter Profi gelassen, konzentrierte sich auf sie, hörte zu und antwortete. Ab und zu dachte sie an die Stöcke in der Einkaufstüte, wo sie damit hingehen würde und was wäre, wenn irgendjemand sie dabei beobachtete. Zum Glück war es schon Ende August, die Abende wurden früher dunkel. Vielleicht einen asphaltierten Gehweg. Querfeldein war ausgeschlossen, da gab es zu viel unwegsame und unvorhersehbare Natur.
Als sie ihren Artikel über Eidsvåg in der Redaktion fertig geschrieben und zudem einen Aufmacher für einen nostalgischen Gedenkartikel über Fleetwood Mac sowie fünf raffinierte Fragen für ein Musikquiz in der Wochenendbeilage abgeliefert hatte, fuhr sie nach Hause, machte sich einen Fjordlandskabeljau in Kräutersoße warm und setzte sich an den Rechner, um nach geeigneten Wanderwegen in der Umgebung von Trondheim zu suchen. Sofort
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