Die Liebesangst - Ragde, A: Liebesangst
muss mal sehen, dass ich weiterkomme«, sagte Ingunn.
»Und wir essen gleich. Wir essen jeden Tag wie Erwachsene.«
»Wie Erwachsene?«
»Ja. Wir essen abends. Ich bin die Einzige in der Klasse, die wie Erwachsene abends warm isst. Statt Abendbrot. Aber ich trinke keinen Wein. Das tut nur Papa.«
»Ach so. Kocht er denn lecker, dein Papa?«
»Er hat eine soooooo lange Reihe …«
Sie streckte die Arme in beide Richtungen aus, so weit sie nur konnte.
»… von Kochbüchern. Ich esse alles gern. Das hab ich von Papa gelernt.«
»Was kocht er denn heute Abend?«
Emma runzelte die Stirn, presste die Lippen aufeinander und schaute aufs Wasser hinaus.
»Er kocht … Moment mal, gleich fällt es mir ein … Er bringt es mir nämlich bei. Deshalb sagt er immer, was er macht. Ja, jetzt weiß ich’s wieder. Er brät so ein langes dünnes Stück Fleisch, und das heißt … irgendwas mit viel … oder …«
»Filetsteak?«
»Ja. Das brät er in Öl und Senf und Honig. Zuerst. Außenrum, und dann legt er es in den Backofen. Und dazu gibt’s Kartoffeln. Und noch was anderes. Papa ist total verrückt mit Essen. Jetzt muss ich nach Hause! Mach’s gut … wie heißt du noch?«
»Ingunn.«
»Mach’s gut, Ingunn.«
Sie wartete, bis Kind und Hund den Hang hochgelaufen und zwischen den Bäumen verschwunden waren, dann machte sie kehrt und ging zurück zum Auto. Die Stöcke legte sie auf die Rücksitze.
58
»Wir lassen uns scheiden.«
Sigrid setzte sich in der Kantine neben sie.
»Was? Aber du hast doch die ganze Zeit gesagt, dass du die Sicherheit nicht verlieren willst, die er dir gibt. Auch wenn er entweder schläft oder fernsieht …?«
Sigrid starrte ihren Pappbecher an und den Teller mit dem halben Brötchen mit Käse und einem Streifen roter Paprika, die rote Farbe hatte auf den Käse abgefärbt.
»Du hattest die ganze Zeit recht, Ingunn.«
»Aber Herrgott, du willst dich doch wohl nicht scheiden lassen, weil ich irgendwas gesagt habe? Ich sage doch nur, was ich meine. Ich hatte nur nicht kapiert, wie du … oder euer …«
»Pst. Es weiß noch niemand. Und nicht ich will die Scheidung. Sondern er. Er will das.«
Sigrid sah sie an.
»Er hat es mir gestern Abend gesagt. Es war schrecklich.«
»Ich begreife nicht, dass du dann zur Arbeit kommen kannst.«
»Ich konnte es zu Hause nicht aushalten. Da türmt sich nur alles auf. Und die Gedanken, dass ich dann allein sein werde. Dass er mich nicht mehr will. Er will mich nicht mehr. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, er hat sich ins Gästezimmer gelegt.«
Man sollte einfach kein Gästezimmer haben, man sah ja, was dabei herauskam.
»Hat er eine andere?«, fragte sie.
»Nein. Aber er hat mir die wildesten Dinge erzählt, das sprudelte richtig aus ihm heraus, dass er mich um nichts in der Welt verletzen will, er will nur verschwinden, weg aus seinem eigenen Leben, er sitzt bei der Arbeit und liest Geschichten von Männern, die ihr eigenes Verschwinden inszenieren, damit ihre Frau sie für tot hält und die Lebensversicherung ausbezahlt bekommt und so. Er ist in Panik geraten, hat er gesagt, er erstickt an seinem eigenen Leben, und er hat sich gefragt, ob es mir nicht auch so geht.«
»Und du hast geantwortet …«
»Dass das nicht der Fall ist. Dass ich ihn liebe. Und er hat angefangen zu weinen und hat gesagt, dass es zu spät ist und er einfach nicht glaubt, dass ich ihn liebe. Was soll ich nur machen, Ingunn?«
»Ihr dürft jetzt jedenfalls nicht im selben Haus sein. Du solltest lieber …«
»Er zieht heute Nachmittag zu einem Arbeitskollegen, und in jeder Mittagspause in der vorigen Woche hat er sich Wohnungen angesehen, er hat eine gefunden, die in zwei Wochen frei wird. Ich kann einfach nach der Arbeit nicht nach Hause gehen, ich gehe zu einer Freundin, kann nicht mit ansehen, wie er seinen Koffer packt und geht. Ich begreife einfach nicht, wie du es aushältst, allein zu sein. Ich versteh das einfach nicht, ich fühle mich total im Stich gelassen, es ist grauenhaft. Ich fühle mich so verloren.«
»Es ist ja auch gerade erst passiert. Natürlich fühlst du dich jetzt so. Du darfst auch nicht erwarten, dass du jetzt schon die Vorteile siehst. Wie wäre es, wenn du es den anderen erzählst, und dann kaufen wir Rotwein und machen uns hier einen gemütlichen Abend, vielleicht haben die anderen auch Zeit.«
»Ich glaube nicht, dass Tonje Wein trinken kann. Sie ist schwanger.«
»Was? Sie ist schwanger?«
»Wusstest du das nicht? Sie hat
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