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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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der besinnlichen Toilette. Es ist Judith.
    Ich störe dich nicht lange, sagt sie.
    Du störst nicht, im Gegenteil.
    Ich will dir nur einen Vorschlag machen fürs Wochenende.
    Wo bist du gerade?
    In Bollenbach, ich habe eine scheußliche Klavierstunde hinter mir... Judith lacht... du weißt schon.
    Die Apokalypse ist im Moment auch nicht mitreißend, sage ich.
    Ich habe in der Zeitung gelesen, daß der Naturschutzbund am Sonntag morgen um acht –
    Um acht! rufe ich dazwischen.
    Um acht eine Exkursion in die Rheinauen macht, um den Gesang der Nachtigallen zu hören.
    Der Gesang der Nachtigallen, wiederhole ich.
    Hast du jemals eine Nachtigall gehört? fragt Judith.
    Nein, sage ich, ich hatte angenommen, Nachtigallen sind schon längst ausgestorben.
    Siehst du! Da sind wir doch dabei, oder?
    Ja klar, sage ich.
    Da freu ich mich drauf! ruft Judith. Wir können uns morgen nicht sehen und heute sowieso nicht, weil ich zuviel unterwegs bin.
    Machs gut, sage ich, gräm’ dich nicht zu sehr!
    Ja, ruft Judith, tschüß!
    Die Nachtigallen-Idee hätte niemals von Sandra kommen können, schon weil sie keine Zeitung liest. Judith beklagt sich zuweilen darüber, wie schwer es ist, ein bißchen Glanz in das Leben zu bringen. Etwas von diesem Glanz verspricht sie sich vom Lauschen in der Natur. Sandra hingegen vermißt keinen Glanz. Sie neigt dazu, die Tatsachen des Lebens ohne Aufbesserung hinzunehmen. Ihrer Meinung nach ist es ohnehin das geheime Ziel aller Menschen, einen friedlichen Weg in die Langeweile zu finden. Die Menschen enden sowieso in der Langeweile, sagt Sandra, aber eben nicht friedlich! Sie bekämpfen die Langeweile, anstatt sich ihr hinzugeben. Ich finde es wunderbar, daß Judith Glanz braucht, und ich lobe Sandra, daß sie ohne ihn auskommt. Jede Art von Apokalypse ist mir in diesen Augenblicken so fern wie... Grönland vielleicht. Ich denke an das Mittagessen, obwohl es erst halb zwölf ist. Das heißt, ich denke an das Problem des Mittagessens. Ich koche nicht, jedenfalls nicht für mich allein. Schon seit Monaten liegt die Telefonnummer von Essen-auf-Rädern auf meinem Schreibtisch. Aber ich traue mich nicht anzurufen. Vermutlich gibt es Bedingungen, die ich nicht oder noch nicht erfülle. Man wird wenigstens sechzig sein oder behindert oder sonstwie krank sein müssen. Und dann kommt ein Amtmann in die Wohnung und prüft, ob ich nicht gelogen habe. Ich fürchte mich davor, alterskindisch oder altersblöd zu werden, was vermutlich dasselbe ist. Ich stelle mich hinter das Fenster und betrachte einen großen Nachtfalter, der auf der Übergardine sitzt. Einmal berührte ich ihn kurz mit der Fingerspitze und merkte, daß er tot war. Er muß, unter Aufbietung seiner letzten Kräfte, nachts durch ein geöffnetes Fenster geflogen sein, er muß gemerkt haben, daß ihm hier niemand sinnlos nach dem Leben trachtet. Dann erst hat er sich klug ein Sterbeplätzchen (die Übergardinen) gesucht und sich in den Stoff gekrallt: Und hat sich ohne Aufsehen davongemacht. Gern würde ich zu gegebener Zeit ebenfalls ein Nachtfalter sein und mir eine unauffällige Übergardine suchen. Es zeichnet sich ab, daß ich heute nicht werde arbeiten können. Mir ist absolut unapokalyptisch zumute, die Zukunft ist mir gleichgültig. Ich weiß nicht einmal mehr, wie ich in den Beruf des Apokalyptikers hineingerutscht bin. Ich muß hinein gerutscht sein, eine andere Erklärung habe ich nicht mehr. Ich bin in vieles hineingerutscht, zum Beispiel auch in eine Ehe, die schon so lange zurückliegt, daß ich mich kaum an sie erinnere. Am Ende meines Studiums habe ich ein Seminar über Politischen Messianismus belegt. Ich habe ein ausgezeichnetes Referat gehalten, für das mich der Professor gelobt hat. Weil ich ein bißchen Erfolg hatte, blieb ich dem Thema treu und stieß bald auf die Politische Apokalypse. Das ist schon die ganze Geschichte. Ich habe die erstbeste Möglichkeit schon für die letzte gehalten. Das Telefon läutet schon wieder. Ich will nicht reden, aber es könnte sein, daß mich eine Volkshochschule, eine Gewerkschaft, ein Fortbildungsverein oder sonst jemand engagieren will, und es geht mir nicht so üppig, daß ich mir Extravaganz leisten könnte. Aber es ist nur Morgenthaler, der Künstler. Er nennt mich am Telefon du alte Faulmaus, was mich zusammenzucken läßt. Es verblüfft mich immer wieder, daß ich die Leute, die mich anrufen, tatsächlich kenne, nein, es verblüfft mich etwas eigentlich Unfaßbares: daß meine Bekannten

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