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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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die älteren Schüler und die Erwachsenen zu dir nach Hause bestellen? frage ich.
    Nein.
    Aber das würde dir doch wenigstens ein bißchen Erleichterung bringen?
    Nein.
    Nein?
    Ich will nicht, daß so viele fremde Leute wissen, wie es bei mir zu Hause aussieht. Außerdem will ich nicht für fremde Menschen meine Wohnung aufräumen, sagt Judith.
    Ich will nicht einmal für mich selbst meine Wohnung aufräumen, sage ich.
    Es ist nicht die Erschöpfung, die mich fertigmacht, obwohl ich jeden Abend erschöpft bin, sagt Judith, sondern es ist mein Konflikt, daß ich keine Nachhilfelehrerin sein will, aber dennoch jeden Tag ordentlich meinen Job mache.
    Ich verstehe Judith ganz ausgezeichnet, aber eine passende und gleichzeitig (irgendwie) befreiende Antwort fällt mir nicht ein. Judith ist einundfünfzig; in diesem Alter ist jedem bekannt, daß sich ein anderes, neues Leben nicht mehr so einfach herbeipfeifen läßt.
    Aber in dieser Situation leben wir doch alle, sage ich.
    Was meinst du?
    Um Judith aufzuheitern, sage ich: Es ist die Dialektik des Deliriums, in der wir leben.
    Endlich lacht Judith ein bißchen und sagt: Von dieser Dialektik habe ich noch nie etwas gehört.
    Die Dialektik des Deliriums geht so: kaum einer tut etwas, kaum einer erreicht etwas, kaum einer verdient etwas, und trotzdem geht alles immerzu weiter.
    Judith sagt nichts.
    Das Mysteriöse der Dialektik besteht darin, sage ich, daß trotz mehrerer Verneinungen am Ende eine Bejahung herauskommt, die dann keiner versteht.
    Du bist mein Retter, sagt Judith leise.
    Ich zucke zusammen und bin froh, daß Judith meinen kleinen Schreck nicht sieht. Sie sagt, daß sie heute noch zwei Nachhilfestunden geben muß, einmal Latein und einmal Klavier. Danach werde ich mich ein bißchen ekeln wie ein Hausierer, sagt sie.
    Aber wenn du in der Straßenbahn sitzt und nach Hause fährst, wirst du plötzlich zufrieden sein, antworte ich.
    Das ist die Endstufe der Dialektik des Deliriums?
    Genau, sage ich.
    Judith lacht. Am Klang ihrer Stimme höre ich, daß sie sich wieder gefangen hat. Weich und samtig verabschiedet sie sich am Telefon.
    Ich gehe mit einem leeren Kissenbezug in der Wohnung umher und sammle schmutzige Unterhosen, Unterhemden, Strümpfe, Handtücher, Geschirrtücher und Bettwäsche ein. Sandra hat mir vor langer Zeit erlaubt (sie hat mich sogar dazu aufgefordert!), ihr meine schmutzige Wäsche zu bringen. Ich mache von dieser Möglichkeit nur selten Gebrauch, weil ich mir als Wäscheablieferer ein bißchen schäbig vorkomme. Aber in den letzten vierzehn Tagen hat sich derart viel schmutziges Zeug angesammelt, daß ich meine Vergünstigung in Anspruch nehme. Bevor ich weggehe, wähle ich die Nummer von Morgenthaler. Ich will mit ihm einen Termin für die Besichtigung der Wohnung seiner Mutter ausmachen. Sekunden später bin ich peinlich berührt. Auch Morgenthaler hat jetzt einen Anrufbeantworter. Ausgerechnet Morgenthaler, von dem kaum noch jemand etwas will. Es ist nicht zu fassen! Im Herzen bin ich dankbar für den Anrufbeantworter. Er treibt eine kleine Wut in mir hoch, die dazu führt, daß ich den Anruf unterlasse. Wahrscheinlich ist auch Morgenthaler schon tot, denke ich, nur sein Anrufbeantworter ist noch nicht abgeschaltet worden. Wenig später verlasse ich die Wohnung. Ich bin sicher, Frau Schlesinger schaut mir nach, wie ich mit dem vollen Wäschesack davonziehe. Unterwegs, in der Limes-Anlage, sehe ich einen älteren Mann. Er geht langsam, bleibt dann fast stehen, winkelt das linke Bein ab, hebt es leicht an und verzieht ein wenig das Gesicht. Die Haltung des Mannes ist die Haltung von Greisen, die gleich einen Wind lassen müssen. Der Mann erinnert mich an meinen seit etwa zwanzig Jahren toten Vater. Vater pupte sogar in der Wohnung. Lange Jahre war ich überzeugt, daß Vater auf diese Weise seine Verachtung für die Familie zeigen wollte. Vor fünf Jahren habe ich meine Meinung geändert. Jetzt nehme ich an, das Pupen war im Gegenteil der völlig naive Ausdruck seiner Aufopferung für die Familie, das Begleitgeräusch seiner Arbeit für uns, die er (vermutlich) als Niederlage empfand. Das Pupen war das Zeichen für die heimlichen Kosten seiner Hingabe an Frau und Kinder. Er hätte nicht verstanden, wenn er dafür gerügt worden wäre. Ich will diese Vorgänge seit mehr als vierzig Jahren vergessen. Ist heute ein besonderer Tag, daß ich mir solche Erinnerungen erlaube? Denn an normalen Tagen bin ich zu schwach für solche Details. Aber mir

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