Die Liebesbloedigkeit
Stunde lang lasse ich mich von dem Geschwirre der Schwalben beruhigen, dann schenke ich mir ein Glas Rotwein ein und proste den vorüberfliegenden Vögeln zu. Prost! sage ich nicht, aber sonst ist alles so, als würden die Schwalben an meinem Tisch sitzen.
Gegen 18.00 Uhr verlasse ich die Wohnung und fahre mit der U-Bahn in Richtung Christuskirche. Alle zehn bis vierzehn Tage besucht Judith ein Kirchenkonzert. Ich gehe mit, obwohl ich in Verlegenheit bin und ein bißchen Angst vor dem Abend habe. Kantaten und Motetten von Bach stehen auf dem Programm. Die Eintrittspreise sind niedrig, die Qualität der Aufführung ist fast immer gut, sagt Judith. Sie genießt es, in der Kirche zwei Stunden lang Menschen um sich zu haben, die gerade nicht reden und nicht einkaufen, die keine Pommes frites kauen, kein Eis lecken, kein Auto waschen und nicht telefonieren, keine Bierdose öffnen und nicht fernsehen, sondern still in einem hohen Raum sitzen und wie wirkliche Menschen aussehen. Judith küßt mich flüchtig und läßt es nicht zu, daß ich ihre Eintrittskarte bezahle. Ich kaufe ein Programmheft und lese im Halbdunkel der Kirche einen Satz aus einer Kantate: Ach Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden. Das Programm hat schon begonnen, und ich überlege immer noch, ob auch mir einmal mit dem Tod gedroht werden muß, damit ich schlau aus mir werde. Ich kann die Frage nicht beantworten und betrachte die Versunkenheit der Musiker, die Ornamente und die Kerzen, die Glasfenster und die Schnitzereien an der Orgel. Die Bachschen Kantaten ergreifen mich auf eine Weise, der ich kaum standhalte. Es entsteht Druck in der Brust, Hitze hinter den Augen, Zittern auf den Lippen und Schweiß im Haar. Ich atme kräftig durch, um den Wunsch des Weinenwollens, hervorgerufen durch die Musik, zurückzuweisen. Ich denke an meine erneut fortgeschrittene Liebesschwäche, die vielleicht sogar der heimliche Grund des Weinenwollens ist. Dieser Tage, als ich mit Sandra schlief, konnte ich zum ersten Mal meinen Samen nicht so lange zurückhalten, wie ich es von mir gewohnt bin (oder, vielleicht, war). Vorzeitig, gegen meinen Willen und gegen meine Erwartung, entwischte mir so gut wie spannungslos der Same und beendete sang- und klanglos einen Beischlaf. Sandra war diskret und fragte nicht. Es besteht zwischen uns der Grundsatz: Wenn ein Problem auftaucht, herrscht so lange Diskretion, bis der Problembetreiber als erster das Schweigen bricht. Wenn mir derartige Zwischenfälle künftig öfter zustoßen, werde ich mich damit abfinden müssen, daß mein Körper seine Lust allmählich selber auflöst. Das ist jedenfalls meine neueste Sorge. Der Körper wird dann nur noch raschen Samenabfluß wollen, mehr nicht. Beklagen sich nicht immer wieder Frauen darüber, daß die Männer zu schnell und lieblos mit ihnen fertig sind? Das ist der plötzlich zur Hauptsache gewordene Samenabgang! Den der Mann selbst nicht will, aber hinnehmen muß! Und über den er nicht redet, weil er ihn nicht erklären kann! Mir wird beinahe Himmelangst. Ein solcher Mann will ich nicht werden. Das Erlebnis mit Sandra hat mich so eingeschüchtert, daß ich erleichtert wäre, wenn ich jetzt schon wüßte, daß der Beischlaf heute ausfällt. Ich sitze neben der ruhig atmenden Judith und betrachte meine Hände. Immerhin, mein Ekzem ist zurückgegangen. Ich bin sofort einverstanden, als Judith nach dem Konzert noch ein Glas Wein trinken möchte (sonst gehen wir nach Konzerten gleich zu ihr nach Hause). Sogar der schwache Abendwind in den Straßen hat sich aufgeheizt. Eine lauwarme Backstubenluft schiebt sich an den Häusern entlang. Die Biergärten sind voll. Die aus offenen Autofenstern herausdröhnende Popmusik macht mir schlechte Laune, aber ich halte durch. Das Fernziel der Nacht heißt diesmal: kein Beischlaf bitte. In einem kitschigen Café finden wir noch einen Tisch. Im Zentrum des Raums steht ein dampfender Springbrunnen, links und rechts davon je ein aufrecht sitzender Porzellangepard. An den Wänden ringsum goldumrahmte Spiegel, Gipsputten, falsche Barockleuchter. Auf Glasregalen Kupferkessel, Kaffeemühlen, Kunstblumen. Wir bestellen Wein und Mineralwasser, Judith liest mir aus dem Programmheft einen Satz von Bach vor: Ich habe fleißig seyn müssen; wer eben so fleißig ist, der wird es eben soweit bringen können.
Glaubst du, daß Bach nur fleißig war? fragt sie.
Mit Sicherheit, antworte ich, aber Bach war vermutlich auch ein bißchen
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