Die Liebesbloedigkeit
überwältigt.
Das wäre ich an deiner Stelle auch, sagt Sandra und kichert weiter.
Es beschämt mich, daß Sandra meine Lage so klar erkennt. Beziehungsweise es bedrückt mich, daß ich Sandra diesen Durchblick nicht zugetraut habe. Wer auf versteckte Weise bedürftig ist, will nicht plötzlich durchschaut werden. Ich gebe zu, ich bin nicht gerade erstklassig ausstaffiert. Seit ungefähr fünfundzwanzig Jahren arbeite ich auf Honorarbasis, das heißt, ich bin zwar krankenversichert, habe aber so gut wie keine Rentenansprüche erworben. Ich muß tatsächlich arbeiten, bis ich nicht mehr kann. Und dann muß ich auf einen gnädigen und raschen Tod hoffen, damit die Arzt- und Krankenhausrechnungen nicht gar zu ruinös ausfallen. Es überflutet mich eine Welle der Rührung und der Reue. Kann ich Sandras Angebot so einfach annehmen? Es peinigt mich, daß ich ihr mit einem Heiratsangebot nicht zuvorgekommen bin. Mir fällt nichts ein. Die Verdutztheit ist im Prinzip nichts Neues für mich. Ich weiß oft nicht, was ich sagen soll. Neu ist diesmal: Ich werde für längere Zeit nicht wissen, was ich sagen soll. Diese längere Zeit beginnt soeben. Ich kann nur sagen: Irgendein ferner Schmerz arbeitet sich auf mich zu, ich sehe ihn kommen. Einfach zurückweisen kann ich Sandras Vorschlag auch nicht, soviel ist klar. Sandra liebt mich, wie ich seit ein paar Minuten weiß, unter Einschluß einer sozial denkenden Fürsorge. Sie liebt mich bis hin zu dem Punkt, an dem sich ihr Gefühl in eine materielle Wohlgesonnenheit verwandelt. Das ist ein Vorgang von erheblichem Gewicht, der in meinem Leben zum ersten Mal eintritt.
Magst du noch meine Bilder anschauen? fragt Sandra.
Ja, natürlich, antworte ich zerstreut.
Wir zahlen und gehen in Richtung Sandras Wohnung. Unterwegs, in der Tullastraße, betritt Sandra ein Farbengeschäft. Ich warte draußen und ergehe mich in Edelreflexionen. Wirkliche Liebe bedeutet Anerkennung der ganzen Person, denke ich; die Anerkennung betrifft nicht nur Teilaspekte des anderen (sein Aussehen, sein Körper, sein Geld, seine Intelligenz), sondern wirkliche Liebe ergreift die Totalität der ganzen Person. Ich kann meinen Edelsinn nicht lange ertragen und fliehe in den Spott. Älterer, zunehmend einfallsloser Apokalyptiker wird im letzten Augenblick von verblendeter Sekretärin gerettet. Aber meine Witze machen mich nicht lustiger. In gewisser Weise wirft Sandras Vorschlag mein Denken aus der Bahn. Ich habe bisher immer geglaubt, daß die Frauen von Männern gerettet werden. In meinem Fall ist es umgekehrt. Ich kann, wenn ich will, von einer Frau gerettet oder zumindest aufgefangen werden. Vermutlich ist es dieser Umsturz des Denkens, der mich nicht losläßt.
Sandra schaut beglückt in ihren Einkaufsbeutel, als sie das Farbengeschäft verläßt. Offenbar ist sie eine zufriedene Freizeitkünstlerin. In der Wohnung räumt Sandra ein bißchen auf und verstaut die neuen Farben. Sie bittet mich, in der Küche zu warten, damit sie ihre Bilder im Wohnzimmer aufstellen kann. Mir schwant nichts Gutes. Das Getue wegen einiger selbstgemalter Bilder deutet auf die Überspielung eines tief unbewußten Mangels, denke ich und empfinde sofort die Lächerlichkeit dieses Gedankens angesichts von Sandras großmütigem Angebot. Sandra schenkt zwei Gläschen Prosecco ein, dann darf ich das Wohnzimmer betreten und Sandras erste Bilder betrachten. Ich verberge meinen Schreck, so gut es geht. Es handelt sich um ein Selbstporträt als junges Mädchen, ein Porträt von Sandras Mutter, ein Porträt von Sandras Sohn und ein Bild des Hauses, in dem Sandras Familie in der Zeit ihrer Kindheit gewohnt hat. Es ist Hobbykunst, sehr farbig, sehr unbekümmert, sehr ahnungslos. Bilder dieser Art werden in den Foyers von Sparkassen und in den Fluren von Gesundheitsämtern ausgestellt. Es ist Provinzkunst, Laienkunst, Volkshochschulkunst. Ich nicke und gebe ein paar Ausrufe von mir, die selbst ich nicht deuten kann. In Wahrheit schmerzt es mich, von Sandra so fatale Bilder sehen zu müssen. In den letzten Jahren waren Sandra und ich in vielen Museen gewesen. Stets hatte sie Vergnügen und Bewunderung vor dem Werk großer Maler empfunden. Besonders gefielen ihr die Bilder von Macke, Morandi, Hodler, Beckmann, Modigliani, Hopper. Sogar an Beuys und Emil Schumacher arbeitete sie sich heran. Ich war der Meinung, daß Sandra nicht unbedingt etwas von Kunst versteht, aber doch erkennen kann, was Kunst und was Dilettantismus ist. Und jetzt das!
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