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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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verrückt, ich meine hysterisch beziehungsweise verstört.
    Wieso?
    Er hat, antworte ich, um seine riesige Familie ernähren zu können, Woche für Woche Kantaten und Motetten schreiben müssen, dabei wurde er immens fleißig, aber auch verrückt.
    Judith lacht. Das meinst du nicht ernst, sagt sie.
    Doch, sage ich, bei Charles Dickens war es übrigens so ähnlich. Der hatte zehn Kinder, eine Frau und eine Geliebte und wurde ebenfalls arbeitsverrückt.
    Und Bachs persönliche Würde? fragt Judith, wo blieb die?
    Die mußte er vergessen, sage ich.
    Nein, seine Würde steckte in seiner Arbeit, das heißt in seinem Genie.
    Aber du hast mir doch gerade vorgelesen, daß er von seinem Genie nichts gewußt hat, sage ich; er hielt sich doch nur für fleißig.
    Ich merke, es paßt Judith nicht, daß wir nicht einer Meinung und, vielleicht noch gravierender, nicht einer Stimmung sind. Ich verstärke die gefühlte Differenz, indem ich jetzt auch noch über Bachs Musik rede.
    Jedesmal, wenn ich Bach höre, sage ich, bin ich den Tränen nahe.
    Du bist eben ein empfindsamer Mensch, sagt Judith.
    Das schon, aber etwas anderes ist wichtiger: Ein Teil von Bachs Hysterie überträgt sich auf die Zuhörer.
    Ach! stößt Judith hervor.
    Meine Beinahe-Tränen erinnern mich an die Tränen von zwölfjährigen Mädchen, die sich im Kino Liebesfilme anschauen.
    Du willst sagen, Bach ist Kitsch? fragt Judith.
    Er ist die Tränenspeise für Erwachsene, sage ich.
    Aber du kannst doch irgendwelche blöden Liebesfilme nicht mit Bachs Musik vergleichen!
    Ich merke, Judith ist leicht verstimmt. Wir trinken unsere Gläser leer, zahlen und gehen. Ich bringe sie nach Hause. Wie von selbst ist klar, daß ich heute nicht mit ihr hochgehe. Judith umarmt mich vor der Tür und seufzt mir ins Ohr, ganz aus der Nähe. Es klingt wie: Über Musik solltest du nicht reden.
    Wie üblich lehne ich mich am Freitag nachmittag gegen 17.00 Uhr gegen die Theke eines heruntergekommenen Kiosks und trinke einen lauwarmen Espresso. Sandra hat es gern, wenn ich den Eindruck erwecke, ich sei tief in Gedanken versunken. Sie möchte mich in abwesend versonnenen Stimmungen vorfinden, aus denen sie mich dann, wie sie es nennt, mit einem Schlag ins Leben zurückholt, nämlich mit ihrer quirligen, redseligen Aufgedrehtheit. Der Angestelltenausgang der Sanitärgerätefabrik, in der Sandra arbeitet, liegt von hier aus etwa fünfunddreißig Meter entfernt. Junge Mütter fahren ihre Babys spazieren. Einige der Frauen wickeln ihre Babys während der Ausfahrt im Kinderwagen. Kurz nach 17.00 Uhr verläßt Sandra das Büro der Sanitärfabrik. Ich tue so, als hätte ich sie nicht sofort gesehen (bemerkt), das gehört zu unserem Spiel. Sondern ich blicke ein wenig betröppelt, fast somnambul auf dem Boden herum, damit mich Sandra mit gehörigem Effekt aufschrecken kann. Das Problem meines momentweise aufgeteilten Daseins (Anwesenheit/Abwesenheit: changierend) könnte ich das Problem des introspektiven Selbstbewußtseins nennen, über das ich vielleicht gleich reden werde. Sandra verlangt von mir, daß ich von Zeit zu Zeit wie ein Intellektueller spreche. Sie findet es toll, mit einem Mann zusammenzusein, der sich (zum Beispiel) minutenlang darüber verbreiten kann, daß Flaubert gegenüber Proust merkwürdig unterbewertet ist. Sandra denkt, daß ich sowohl Flaubert als auch Proust kenne und sogar weite Teile der Sekundärliteratur überblicke. In Wahrheit gehöre ich zu denjenigen, die nach zweihundert Seiten Flaubert/Proust die Lektüre aufgegeben haben. Ich gestehe das sogar ein, aber Sandra will es nicht wissen. Es ist seltsam, daß man sich erst mühsam ein paar nicht ganz saubere Ticks abgewöhnt hat (intellektuelle Angeberei), die man sich dann einer Frau zuliebe ebenso mühsam wieder angewöhnt. Natürlich habe ich eine Menge Themen auf Lager. Ich kann mich (zum Beispiel) auch darüber auslassen, warum Martin Heidegger die Nazis nicht sofort durchschaut hat (was hätten wir dann für einen makellosen Apokalyptiker!) oder warum Max Weber inmitten seines schöpferischen Lebens von einer furchtbaren Depression überrascht wurde, die ihn dann für Jahre aus der Bahn warf. Sandra hat nicht die geringste Möglichkeit, den Wahrheitsgehalt meines schnell sprudelnden Bildungswissens zu überprüfen. Sie möchte nur sicher sein (und es selber hören können), daß der Mann ihrer Wahl so phantastisch reden kann. Ich baue in meine Vorträge manchmal ein bißchen Blödsinn ein, den mir Sandra

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