Die Liebesbloedigkeit
Sandra scheint die Fatalität ihrer Bilder nicht zu empfinden. Ich halte mich an meinem Glas und erwecke den Eindruck von jemand, der in erhebliche Reflexionen versunken ist, um einer geistigen Herausforderung standzuhalten. Es ist meine alte Intellektuellennummer, mit der ich so gut wie alles verdecken kann. Sandra ist aufgekratzt, sie findet es ganz außerordentlich, daß sie jetzt malt. Sie gibt Auskunft darüber, was sie sich beim Malen gedacht hat, und sie schimpft auf ihre Schwester, weil diese sie als Wichtigtuerin bezeichnet hat. Sandras Sätze gehen in eine Kindheitserzählung über, in der die Bilder keine Rolle mehr spielen. Sandra füllt mein Glas nach, sie stellt sich neben mich und faßt mich beim Reden liebevoll an. Ich frage mich, ob es mir hilft, wenn ich ihre Bilder als zarte Vorboten einer Alterserscheinung deute. Wer altert, wird unbemerkt aus der Kurve getragen. Bei Sandra hat es die Geschmacksnerven getroffen. Natürlich habe ich keine Ahnung, ob mir diese Idee helfen wird, Sandras Bilder öfter als einmal anzuschauen. Ein weiteres Glas trinke ich nicht mehr leer, ich sage noch dies und das, dann gehe ich nach Hause.
7
Am Frühabend merke ich, daß ich um die Ernsthaftigkeit eines schwer begreiflichen Tages älter geworden bin. Ich sitze in meinem Arbeitszimmer und seufze. Wie soll ich die Freude über Sandras Heiratsantrag und die Enttäuschung über ihre schlechten Bilder miteinander vereinbaren? Vor vielen Wochen habe ich in einem der Bäume ein Eichhörnchen herumspringen sehen. Immer wieder schaue ich aus dem Fenster hinaus, aber das Eichhörnchen scheint auf Nimmerwiedersehen verschwunden zu sein. Im Haus gegenüber stellt sich eine Frau an ein offenes Fenster und putzt ihre Schuhe. Eine Weile schaue ich zu, dann rufe ich mich zur Ordnung: Mein Gott, was gibt es denn dabei zu sehen? Ich will nichts Bestimmtes sehen, ich will mich durch Sehen beruhigen, aber es klappt nicht. Ich höre zu, wie die nach Hause zurückkehrenden Mieter ihre Apparate anwerfen. Der junge Architekt, der mit mir auf der gleichen Etage wohnt, beruhigt sich beim Gepolter der Rolling Stones. Die Lehrerin über mir entspannt sich bei den süßlichen Harfenklängen von Vollenweider. Ich selbst schalte gegen 19.00 Uhr die Fernsehnachrichten ein. Die Informationen interessieren mich kaum, ich will nur das öffentliche Altern der Nachrichtensprecherinnen beobachten. Wenn eine Sprecherin ein paar Wochen keinen Dienst hatte und dann plötzlich wieder auf dem Schirm auftaucht, ist sie einerseits eine Spur bitterer, sich selbst aber auch ähnlicher geworden, eine geheimnisvolle Verschränkung, die mich tröstet. Wahrscheinlich wird man über lange Zeit nur langsam alt, dann aber sehr schnell. Nach den Nachrichten ruft Judith an und sagt mir, daß sie in Kürze vierzehn Tage Urlaub auf Mallorca machen wird. Ich habe ein günstiges Angebot erwischt und schnell zugegriffen, sagt sie und lacht. Ich bin daran gewöhnt, daß Judith im Sommer vierzehn Tage allein verreist. Es kommt ihr darauf an, zwei Wochen lang vollständig umsorgt zu werden. Sie will nur schlafen, lesen, essen, liegen, spazierengehen und nicht reden, nicht einkaufen, nicht nachdenken und keine Termine machen und keine Nachhilfeschüler sehen. Sonderbar ist, daß sich Judith wenig später ebenfalls um meine Zufriedenheit sorgt. Sie schlägt vor, ich soll im Stadtzentrum einen Schulungsraum mieten und permanent eigene Apokalypse-Veranstaltungen anbieten. Sie glaubt, es gibt in der Stadt einen ausreichend großen Markt für ein apokalyptisches Dauerangebot. Dann mußt du nicht mehr diese anstrengenden Seminare in Hotels machen, sagt sie.
Ich verspreche, mir den Vorschlag zu überlegen. Statt dessen denke ich fast permanent darüber nach, ob man mir ansieht, daß mir ein Heiratsantrag gemacht worden ist. Ich gebe zu, daß der Antrag meine Männlichkeit stärkt und meine Eitelkeit besänftigt. Vermutlich sieht man mir den Antrag nicht an, im Gegenteil. Mir ist schon öfter aufgefallen, daß fremde Männer ungläubige und unwirsche Züge annehmen, wenn sie mich an der Seite von Sandra oder Judith sehen. Ich kann deutlich erkennen, wie sie sich überlegen: Wie kommt dieser nervöse, im Gesicht grünlich-gelbe, im Nacken zu starke und im ganzen zu unelegante Mensch zu so einer schönen Frau? Ich würde diesen überheblichen Männern jetzt gerne sagen: Übrigens, ich bin ein Mann mit Heiratsantrag, und wenn sie dann blöd schauen, würde ich hinzufügen: Nein nein, nicht
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