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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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ich benommen und gerührt. Rührt die Rührung vom ältlichen Küssen her oder von der Freude darüber, daß ich doch keinen Herzinfarkt hatte oder habe? Judith verschwindet hinter der Sperre und wird von einer Sicherheitsbeamtin abgetastet. Wir winken uns, als wären wir ganz jung. Dann ist Judith für vierzehn Tage verschwunden.
    Während der Rückfahrt in die Stadt, in der S-Bahn, stelle ich mir die intensiven Proseminare vor, die ich über die sonderbare Verschwisterung des Mitleids mit dem Selbstmitleid angeboten hätte, wenn ich Philosophieprofessor oder Anthropologe geworden wäre. Aber leider bin ich nur ein Apokalyptiker, der seine Beobachtungen in engen Flughafenfluren macht, unbemerkt und unbezahlt. In der Nacht träume ich von meinem toten Vater. Das Telefon klingelt, ich nehme ab, am anderen Ende erkenne ich seine Stimme, an die ich mich im realen Leben nicht mehr erinnere. Röchelnd sagt mein Vater: Hilf mir, ich bin... hinten heruntergefallen... komm schnell, komm. Wo bist du denn? unterbreche ich. Frag nicht, sagt er, du mußt kommen... ich kann nicht... nicht... sofort. Aber wo bist du denn? frage ich wieder dazwischen. Du mußt kommen... sagt er... komm, los. Und wo finde ich dich? frage ich... sofort... ich komm nicht hoch... allein... sofort. Schon ist der Traum zu Ende, ich wache auf, schweißnaß, bestürzt, ratlos. Du mußt unbedingt dein Frauenproblem lösen, denke ich... unbedingt... sofort, sonst wirst du wie dein toter Vater bald sinnlos in der Nacht herumtelefonieren. Ich gehe in die Toilette und erinnere mich dort an meinen toten Vater. Abends saß er oft allein am Küchentisch und fing Fliegen. Meistens ließ er die Fliegen gleich wieder frei. Aber manchmal hielt er eine gefangene Fliege so lange im Dunkel seiner geschlossenen Hand, bis das Tier sichtbar geschwächt auf den Tisch fiel, wenn sich seine Hand wieder öffnete. Am Morgen beschließe ich, auf den Friedhof zu gehen und nach dem Grab meiner Eltern zu schauen. Es ist viele Jahre her, daß ich das Grab zuletzt gesehen habe. Obwohl mein Vater seit mehr als zwanzig Jahren tot ist, schäme ich mich noch immer für ihn. Schon beim Frühstück empört mich die so lange nachwirkende Ausstrahlung eines toten Vaters. Die Scham wird so stark, daß ich überlege, den Besuch auf dem Friedhof wieder zu streichen. Dabei habe ich mir immer gewünscht, daß es meinem Vater einmal bessergehen sollte als mir. Es ist nichts draus geworden, es geht mir eindeutig viel besser als ihm. Ich rechne damit, ein verlassenes, vielleicht heruntergekommenes Grab vorzufinden. Doch dann bin ich erstaunt. Das Grab ist nicht nur nicht vernachlässigt, sondern im Gegenteil gepflegt und mit frischen Blumen geschmückt. Blank und geputzt ragt der Grabstein in das Sonnenlicht. Es muß jemand geben, der das Grab heimlich pflegt. Ich habe keine Ahnung, wer das sein könnte. Wenn ich mich nicht irre, will ich es auch nicht wissen, obwohl mich die Tätigkeit des anonymen Fremden erleichtert. Ich will mich gerade wieder abwenden, da sehe ich zwischen den Grabsteinen das Gesicht Morgenthalers. Er ist gekämmt und rasiert und trägt ein Sakko und ein weißes Hemd mit Krawatte. Ich habe vergessen, ihn wegen der toten Möbel seiner Mutter anzurufen. Ich will mich hinter einem besonders breiten Familiengrabstein verstecken, da hat er mich schon entdeckt und kommt freudig aufgeräumt auf mich zu.
    Ehh, wie gehts, sagt er, soll ich dir das Grab meiner Mutter zeigen?
    Morgenthaler deutet auf ein frisch aufgeworfenes Rechteck mit Blumen und einem Holzkreuz. Offenbar hat er vergessen, daß ich ihm einen Anruf versprochen habe. Ich folge ihm ein paar Schritte, bis er vor dem Grab seiner Mutter stehenbleibt. Da liegt sie, sagt er, Elfriede Morgenthaler. Während er über das Sterben seiner Mutter redet, klingelt ein Handy in seiner Jackentasche. Er holt das Gerät heraus und spricht sofort. Mit der anderen Hand holt er eine Zigarette aus seiner Innentasche und zündet sie an. Morgenthalers Getue stößt mich ab, ich entferne mich von ihm, aber er hält mich zurück. Es gefällt mir, daß er schon zum zweiten Mal das Wort piepegalpiepe in sein Handy hineinspricht. Die meisten Menschen sagen nur: Das ist mir egal. Einige wenige sagen: Das ist mir piepegal. Nur Morgenthaler sagt: Das ist mir piepegalpiepe.
    Warte, sagt er, es gibt etwas Neues!
    Ich bleibe stehen.
    Ich bin Empörten-Beauftragter der Delling-Werke geworden, stößt er hervor.
    Du? frage ich.
    Ja, ich, sagt er.
    Allerhand,

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