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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Sozialhilfeempfänger aus.
    Aha! mache ich mit geheuchelter Bewunderung.
    Ich glaube, meine Idee wird einschlagen wie eine Granate, sagt Bettina.
    Das kann gut sein, lüge ich.
    Die Leute werden sich fragen: Warum gibt es ein solches Büro erst seit heute?
    An dieser gut gewünschten, aber praktisch leeren Idee (kaum Umsatz, kein Gewinn) werde ich noch auf ihrem Sterbebett Bettinas hoffnungsloses Denken erkennen. Vor etwa zweiundzwanzig Jahren wollte sie Tonbänder mit modernen Romanen besprechen und sie (gegen Gebühr!) an Blinde, Arme und Alte ausleihen. Schon damals erkannte sie nicht, daß außer Gutmütigkeit nichts an ihrer Idee dran war. Immer scheitert es am banalen Geld! war damals ihr Lieblingsausruf. Seinerzeit habe ich versucht, Bettina darüber zu belehren, daß Geld nicht banal ist, ganz im Gegenteil. Natürlich ohne Erfolg. Bettina kann noch nicht einmal erkennen, daß ihre neueste Idee ihren alten Projekten stark ähnelt. Ich bin in Versuchung, Bettina zu fragen, wo sie das Geld für die Einrichtung ihres Büros hernehmen wird, aber dann fällt mir ein, daß mit derartigen Fragen vor mehr als dreißig Jahren unsere Ehekräche begonnen haben.
    Und du? Ziehst du immer noch mit der alten Apokalypse übers Land?! ruft Bettina aus.
    Vermutlich denkt Bettina, ich werde mich gleich gegen den Hohn in ihrer Frage verwahren. Aber ich sage nur leise: Wahrscheinlich wird sich daran nichts ändern.
    Das hört sich nicht sehr flott an, sagt Bettina.
    Die Apokalypse ist nicht flott, sage ich.
    Bettina ist die dritte Frau, die sich innerhalb weniger Tage um meine Zukunft sorgt. Offenbar erwecke ich zur Zeit den Eindruck der Bedürftigkeit. Eine kleine Unruhe flackert durch mein Bewußtsein. Im Augenblick weiß ich nicht, was ich sagen soll. Dicht neben uns geht ein junges Paar mit Kind vorbei. Gerade sagt die Mutter zum Kind: Wenn der Papa nein sagt, sage ich auch nein. Die Antwort trifft mich, als wäre ich das Kind. Jetzt weiß ich noch weniger, was ich zu Bettina sagen soll. Ich betrachte das verstummende Kind. Es hat keine Chance, gegen die verneinenden Eltern irgend etwas vorzubringen.
    Bettina ruft aus: Es ist wie früher! Ich fühle genau den Augenblick, an dem du dich nicht mehr für mich interessierst!
    Ich überlege, ob ich Bettina auf das verstummte Kind hinweisen soll, aber ich sage nur: Es tut mir leid!
    Langweilen kann ich mich auch alleine, sagt Bettina, tschüß! Bis zum nächsten Mal!
    Ich habe Lust, Bettina nachzurufen: Das kannst du gerade nicht, liebe Bettina, sich langweilen ist eine große Kunst!
    Mit einer Geste starken weiblichen Triumphierens läßt Bettina mich stehen und verschwindet im Gewimmel der Passanten.
    Drei Tage später bringe ich Judith zum Flughafen. Ich erschrecke, als ich vor den Abfertigungsschaltern die langen Schlangen mit sommerlich gekleideten Urlaubern sehe. Wieder frage ich mich, ob die Leute sich anders präsentieren würden, wenn sie wüßten, daß sie alle zu Karikaturen geworden sind. Oder ihre Lust besteht gerade darin, eine öffentlich wiedererkennbare Massenkarikatur geworden zu sein. Judith reiht sich tapfer in eine der Warteschlangen ein, ich werde sie bis zur Sperre begleiten. Ich weiß nicht genau, ob ich Mitleid mit den anderen oder Mitleid mit mir selbst habe. Es ist nicht möglich, Mitleid mit den anderen vom Selbstmitleid klar zu trennen. Die beiden Mitleide (kann man das sagen?) sind unauflöslich ineinander verschlungen. Sicher ist nur: Man kann kein Mitleid mit den anderen haben, ohne sich gleichzeitig selbst zu bemitleiden. Warum aber wird das Mitleid so stark diskriminiert? Es ist nichts anderes als eine soziale Einfühlung, ohne die wir nicht leben können. In diesen Augenblicken steigt eine Druckwelle in mir hoch und zieht durch meinen Oberkörper. Momentweise glaube ich, mein Brustkorb wird hart und eng. Fängt so ein Herzinfarkt an? Die Wände hier sind so glatt, daß ich mich nicht einmal irgendwo festhalten könnte. Die Druckwelle verschwindet, läßt aber einen halbminütigen Preßschmerz zurück, über den ich mit niemandem werde reden können. Altern kostet heimlich. Kurz vor den Sicherheitskontrollen wirft Judith die Arme um mich und küßt mich. Beim Küssen empfinde ich eindeutig Selbstmitleid. Ich wage mir kaum einzugestehen, daß der Reiz des Küssens nachläßt. Still und leise werde ich von meinen Erlebnissen verlassen. Judith merkt offenbar nicht (oder es ist ihr egal), daß mein Eifer beim Küssen nicht ganz echt ist. Trotzdem bin

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