Die Liebesbloedigkeit
sage ich, gratuliere.
Von achtzig Bewerbern haben sie mich ausgewählt!
Phhuu! mache ich bewundernd.
Ich hab mal Sozialarbeit studiert, sagt er, das hat vermutlich den Ausschlag gegeben.
Ahh so, antworte ich.
Ich würde gern fragen, ob er die Malerei endgültig zur Seite gelegt hat, aber ich will ihn nicht beschämen. Er muß sich künftig mit den unzufriedenen Mitarbeitern der Delling-Werke so lange beschäftigen, bis sie einsehen, daß ihre Unzufriedenheit unangebracht ist. Wir gehen in Richtung Friedhofsausgang.
Meinem Vorgänger ist es gelungen, einen empörten Pförtner für den Naturschutz im Osten zu interessieren! Der Mann setzt sich jetzt dafür ein, daß die Fischotter dort in sauberen Flüssen überleben können!
Toll, sage ich.
Man muß empörten Menschen neue, sinnvolle Aufgaben geben, sagt Morgenthaler.
Genau.
In vierzehn Tagen mach’ ich übrigens ein großes Fest!
Weil du Empörten-Beauftragter geworden bist?
Das muß gefeiert werden, sagt Morgenthaler, du bist eingeladen!
Vielen Dank, sage ich; wer kommt zu deinem Fest?
Ein paar Leute aus der Firma, alte Empörte sozusagen, die schon seit Jahren nicht mehr über die Stränge geschlagen haben, aber auch alte Bekannte. Deine Exfrau habe ich auch eingeladen.
Will sie kommen?
Natürlich! Sie will übrigens wieder heiraten, weißt du es schon?
Das ist vermutlich das Beste für sie, sage ich.
Wir verlassen den Friedhof. Morgenthaler redet begeistert über seine neuen Aufgaben. In der Nähe der Kreuzung Ritterstraße/Ludwig-Erhard-Allee trennen wir uns. Es ist halb zwölf, ich habe Hunger. Ich weiß nicht, ob ich zu Morgenthalers Fest gehen soll. Menschenansammlungen, selbst kleine, bekommen mir nicht mehr. Vor dem Schaufenster eines Fischgeschäfts bleibe ich stehen. Die Fischverkäuferin links geht zur Fischverkäuferin rechts und beginnt, dieser den Nacken zu massieren. Die Frauen finden es spaßig, daß ihnen von draußen ein Mann zuschaut. Während der ganzen Zeit bleibt das Geschäft leer. Wenn ich mich nicht täusche (ich werde mich täuschen), habe ich drei Möglichkeiten: 1. Ich werde Sandra gegenüber einen zunehmend störrischen älteren Mann spielen, der seiner verquasten Individualität zuliebe Heirat und Rente ausschlägt. 2. Ich bin feige und werde Sandra heiraten, weil ich mir die Rente nicht entgehen lassen kann. Judith kann ich die Heirat eingestehen, weil es Judith egal ist, ob ich verheiratet bin oder nicht. 3. Ich werde Judith heiraten, Sandra die Heirat aber verschweigen und die alten (gegenwärtigen) Verhältnisse fortsetzen. Ich würde gerne jemanden um Rat fragen, aber es gibt in meinem Leben niemanden, der für mein Problem kompetent genug wäre. Ich habe mich bereits getäuscht. Wenn Sandra (oder Judith) eines Tages entdeckt, daß es die je andere Frau gibt, werde ich als gewöhnlicher triebhafter Mann dastehen. Diese Enthüllung werde ich vielleicht gerade noch hinnehmen können. Wenn aber dann auch noch herauskommt, daß ich die eine (oder andere) heimlich geheiratet habe, werde ich ein krummer Hund sein, ein niedriger Frauenbetrüger, den man von morgens bis abends beschimpfen kann. Ein solcher Mann will ich keineswegs werden. Das heißt, ich darf keine von beiden heiraten. Zu meinen säuerlichen Überlegungen paßt jetzt recht gut ein Fischbrötchen. Aber die beiden Fischverkäuferinnen machen sich inzwischen über mich lustig. Ich wende mich ab und gehe nach Hause. Aus vielen Bürohäusern entströmt ekelhafter Tiefgaragengeruch. Eine verwirrte Frau, die ich in dieser Gegend schon öfter gesehen habe, hüpft die Straßenbahnschienen entlang. Sie trägt immer dieselbe sackartige Hose und eine Art Trainingsjacke, vermutlich der Tagesdreß einer Anstalt. Ich nehme an, die Frau benutzt die Straßenbahnschienen als Wegweiser zurück ins Heim. Auch dann, wenn ich Zeit habe, fühle ich mich neuerdings eilig. Die Eile ist ganz überflüssig und enthüllt in ihrer Falschheit, daß sie nicht meinem Tag, sondern meinem ganzen Leben gilt. Ich komme an einem eleganten Süßwarengeschäft vorbei. Die hohen Preise erschrecken mich. Ein kleines Cellophanbeutelchen mit Trüffeln kostet ein halbes Vermögen. Ich habe in letzter Zeit sehr gut verdient, ich könnte mir mehrere Beutel mit Trüffeln kaufen. Aber ich empfinde kaum Eßlust und noch weniger Kauflust. Im Gegenteil, mir fällt meine letzte Konsum-Depression ein, die sich immer noch nicht ganz aufgelöst hat. Es ist schon eine Weile her, daß plötzlich die
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