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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Sioux-Indianer. Es war Vater egal, daß schon am nächsten Morgen in der Schule jeder mir ansah, daß sich ein grotesker Nichtskönner an mir zu schaffen gemacht hatte. Die Schmach zittert nach so vielen Jahren erneut durch mich hindurch. Hätte ich doch in der U-Bahn nicht so lange auf den alten Fahrradsattel gestarrt! Ich schaue in den Spiegel und überzeuge mich, daß ich heute anders aussehe. Aber leider gefalle ich mir auch heute nicht. Mein feuchtes Haar klebt eng am Schädel und gibt mir das Aussehen eines Bademeisters oder Pförtners. Erneut werfe ich mir vor, daß ich mich nicht gegen Vater erhoben habe. Er pupte auch am Tisch, sogar während des Essens. Er hob kurz den Hintern, ließ einen Furz entweichen und aß weiter. Mutter gab mir sonntags am Mittagstisch mit Blicken den Auftrag, gegen den furzenden Vater vorzugehen. Ich sah das Flehen im Gesicht der Mutter, aber ich traute mich nicht, meine Kräfte waren zu schwach und meine Feigheit zu groß. Das wiederkehrende Gefühl des Versagens ist auch jetzt nicht annehmbar. Ich gehe auf die Toilette und will es kotzend loswerden, aber es bleibt bei mir. Es kommt nie etwas, das Gefühl der feigen Scham hat sich in mir eingekörpert, es wird mich nie wieder verlassen. Erneut schaue ich in den Spiegel und senke kurz den Kopf. Der Katastrophenbefallene nickt seiner Katastrophe zu, mehr ist nicht zu machen. Da klingelt das Telefon. Es ist Judith. Ich sage ihr, daß ich mich nicht gut fühle, und sie fragt, ob sie mich besuchen und mir helfen soll. Nach dreißig Minuten ist sie da. Sie hat sich einen neuen, breitkrempigen Strohhut gekauft. Auf der linken Seite des Hutes sind zwei dunkelrote Glaskirschen und ein blaues Band befestigt. Judith sieht wunderschön aus, ich muß sie immerzu anschauen. Durch den Hut dringt der Sommer sogar in meine Wohnung ein. Judith macht mir einen Kamillentee und schält mir eine Orange. Sie sagt, ich soll mich ein wenig hinlegen, ich folge. Sie setzt sich zu mir wie an das Lager eines vorübergehend Erinnerungskranken. Ich trinke Tee und esse den Zwieback, den Judith mitgebracht hat, genau wie die Orange. Judith nimmt den Hut nicht ab. Es ist, als wüßte sie, daß ich sie niemals verlassen kann.
    Am nächsten Vormittag rufe ich Dr. Ostwald an und erzähle ihm, wie der Kofferausflug verlaufen ist. Wahrheitsgemäß gebe ich zu, daß ich ein wenig ergriffen war.
    Mehr nicht? fragt er.
    Mehr nicht, sage ich.
    Hatten Sie keinen Einfall, keine Idee, irgend etwas?
    Nein, tut mir leid, nichts. Ich warte, daß er zu einer Erklärung anhebt, aber er sagt nichts.
    Wollen Sie mir nicht sagen, frage ich dann, wozu dieses Experiment gut sein soll?
    Noch nicht, sagt Dr. Ostwald, erst später.
    Und wie soll es jetzt weitergehen?
    Sie haben doch bestimmt noch einen alten Koffer und noch ein paar ältere Sachen, die Sie nicht mehr tragen?
    Habe ich.
    Dann wiederholen Sie bitte das Kofferexperiment.
    Es entsteht ein Schweigen, das Dr. Ostwald dann unterbricht: Ich spüre Ihre Reserve.
    Ich bin ein dem praktischen Leben zugewandter Mensch, sage ich, deswegen käme ich mir unredlich vor, wenn ich meine Vorbehalte gegen Ihre Therapie verschweigen würde.
    Ich verstehe Sie sehr gut, sagt der Panik-Berater, und ich will Sie auch nicht unnötig auf die Folter spannen. Können wir so verbleiben: Sie wiederholen bitte den Kofferausflug, danach bin ich gesprächiger?
    Na gut, mache ich.
    Ich besitze tatsächlich noch einen weiteren alten Koffer, den Koffer meiner Mutter, den ich seit etwa dreißig Jahren mit mir herumschleppe. Ich hole ihn vom Schrank herunter und beuge mich über ihn, wie ich mich früher über die Mutter gebeugt habe. Es entströmt dem Koffer immer noch der Muttergeruch, wenn auch schwach. Ich verpacke zwei paar Schuhe, zwei sehr gut erhaltene Hosen (zu eng geworden), ein Sakko (ebenfalls zu eng), eine Winterjacke, vier Hemden und zwei Pullover. Gegen Mittag ist das Haus vollkommen still. Unangenehm leise und ein wenig unbehaglich verschwinde ich in Richtung U-Bahn-Station. Ich gehe wieder zum Friedensplatz. Es ist ein bißchen sonderbar, daß ausgerechnet ein Mensch wie ich, den die Angst vor Armut und Hunger nie wirklich verlassen hat, kofferweise Kleidung wegträgt. Ich stelle wie voriges Mal den Koffer ab und suche mir danach einen Stehplatz an einer Hauswand. Genau zwischen einem Fischgeschäft und einem Brautmodenladen bleibe ich stehen. Die Türen der Geschäfte sind geöffnet. Von links dringt deutlicher Fischgeruch zu mir, von rechts

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