Die Liebesbloedigkeit
der sanftere Duft noch unbenutzter Brautwäsche. Es hat mir immer gut gefallen, daß Männer und Frauen bei der Ausübung der Liebe hinterher ein bißchen nach Fisch riechen. Und Mann und Frau nicht recht wissen, ob es der Same des Mannes oder das Sekret der Frau ist, was riecht. Ist es nicht zum Lachen eigenartig, daß bei den Vorgängen der Liebe der Gestank der Menschheit entsteht, an dem hinterher niemand schuld sein will? Kinder gehen vorüber und zeigen deutlich ihren Ekel vor dem Fischgeruch. Kleine Mädchen betrachten die Brautkleider und kichern. Nur vorüberstreifende Hunde sind gleichgültig und empören sich über nichts. Da sehe ich einen Mann, der sich für meinen Koffer interessiert. Er ist ungefähr vierzig Jahre alt und trägt einen Sportsack auf dem Rücken. Nach meiner Einschätzung wird er den Koffer gleich abtransportieren. Aber ich täusche mich. Der Mann hebt den Koffer auf die Bank und öffnet ihn. Mit schnellen Bewegungen untersucht er den Inhalt. Die vier Hemden und die Hosen legt er auf die Seite. An den Pullovern und der Winterjacke ist er offenbar nicht interessiert. Das Sakko schlägt er auseinander und zieht es an. Ich bin perplex. Ich sehe einen Fremden mit meiner Jacke. So sieht etwas von dir aus, wenn es nicht mehr dir gehört. Ich betrachte mein Sakko und »gebe« es »auf«. Ich bin ein wenig belustigt beziehungsweise ratlos beziehungsweise verstört. Aus seinem Sportsack zieht der Mann zwei ordentlich zusammengelegte Plastiktüten hervor und faltet sie auseinander. In eine der Tüten steckt er die beiden Hosen, in die andere die vier Hemden. Dann schließt er den Koffer und stellt ihn auf den Boden zurück. Der Fremde geht weg. Ich kann nicht anders, ich laufe ihm eine Weile hinterher. Mehrmals flüstere ich den gleichen Satz: Da geht einer mit deiner Jacke! Erstmals denke ich: Soll mich das Kofferexperiment auf mein eigenes Verschwinden aufmerksam machen? Die Schlichtheit der Botschaft irritiert mich. Oder will mich Dr. Ostwald auf den Arm nehmen? Neben mir hebt eine Frau beide Arme und schaut nach, ob sie transpiriert. Zwei junge Angestellte lachen viel zu laut. Bei einem geht das Lachen in ein Husten über, der andere verstummt. Ich verliere die Lust an der Verfolgung des Fremden. Eine halbe Minute bleibe ich stehen und schaue dabei zu, wie mein Sakko zwischen den Passanten mehr und mehr abtaucht/untergeht/verschwindet. Eine Minute lang weiß ich nicht, was das Leben von mir will. Oder ist es mal wieder soweit, daß ich irgend etwas Offenkundiges nicht begreife? Ich empfinde Heimweh nach irgend etwas, betrete ein Bistro und bestelle eine Portion Spaghetti Bolognese. Aus einem kleinen Radio ertönt das Lied ›Wenn mein Schatz Hochzeit macht‹ von Gustav Mahler. Obwohl ich noch gestern dachte, ich würde entweder Sandra oder Judith verlassen, habe ich jetzt das Gefühl, ich selbst sei/ bin der Verlassene. Eine magersüchtige Kellnerin bringt die Spaghetti an meinen Stehtisch. Draußen geht ein leichter Sommerregen nieder. Die Spaghetti duften angenehm und schmecken ausgezeichnet. Ein heruntergekommener Mann betritt das Bistro und bettelt zuerst die Kellnerin und dann die Gäste an. Er wird von allen abgewiesen, die Leute hören ihn nicht einmal an. Weil ich mein dummes Heimweh vergessen will, greife ich nach einer liegengebliebenen Zeitung und lege sie neben meinen Teller. Der Mann kommt zu mir, ich zittere ein bißchen, weil ich nicht weiß, was ich machen soll. Ich fingere in meiner Hosentasche herum, aber das bißchen Kleingeld, das ich dort gerade finde, ist für einen Mann in seiner Lage nur eine weitere Demütigung. Plötzlich frage ich den Mann, ob er meine so gut wie unberührten Spaghetti zu Ende essen möchte. Der Mann ist sprachlos, ich auch, etwa vier Sekunden lang. Der Mann macht ein gepeinigtes Gesicht, ich vermutlich ebenfalls.
Die Spaghetti sind sehr gut, sage ich dann, ich meine es nicht im geringsten herablassend, im Gegenteil, ich bin nur schon satt und will nicht, daß die Bedienung die Spaghetti in den Abfall schüttet, das wäre zu schade.
Ich spüre den Druck zwischen meinen Gesten und meinen Sätzen, ich halte es für möglich, daß der Mann gleich ausholt und mir ins Gesicht schlägt, aber dann sehe ich, daß er dazu zu schwach ist. Er geht zur Theke und holt sich Besteck, er kehrt zurück, ich verlasse mit einem verlegenen Kopfnicken den Stehtisch, der Mann übernimmt meinen Teller. Ich bin ein wenig erregt beziehungsweise eingeschüchtert
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