Die Liebesgöttin erwacht (German Edition)
seinen Vater betrachtete.«
»Hat er später, als er älter wurde, noch einmal davon angefangen? Hat er mehr erzählt?«
Rosalie schüttelte den Kopf: »Nein. Als er zur Schule ging, veränderte er sich rasch, gewann Freunde und begannFußball zu spielen. Kurzfristig wurde er sogar zu einem kleinen Raufbold, ich erkannte mein eigenes Kind manchmal nicht wieder. Er hat mir übrigens nie verziehen, dass ich nach der Scheidung mit ihm nach Paris zurückgekehrt bin. Und sobald er konnte, ging er auch wieder nach Rom, um es nie mehr zu verlassen. Er ist dort auch gestorben und beerdigt. Er muss wirklich seine Wurzeln in dieser Stadt gehabt haben. Und dabei stammten weder ich noch Ricardo von irgendwelchen italienischen Seitenlinien ab. Wenigstens unseres Wissens nach.«
»Und die zweite versprochene Geschichte?«
»Die betrifft mich selbst. Ich war vielleicht zwölf, dreizehn Jahre alt. Eines Tages sollte meine Schulklasse einen Wanderausflug in die Berge unternehmen. Ich freute mich darauf. Aber dann hatte ich am Tag zuvor diesen Traum. Meine kürzlich verstorbene und heiß geliebte Großmutter warnte mich darin eindringlich, die Bergwanderung mitzumachen. Dann nahm sie mich an der Hand, und wir schwebten zusammen hinaus aus dem Haus und in die Dunkelheit der Nacht hinein. Plötzlich war da unter uns eine Schlucht zu sehen. Eine Gruppe von Leuten, anscheinend Kinder in Begleitung von zwei Erwachsenen, befanden sich auf dem Abstieg hinunter zum Grund der Schlucht. Ein merkwürdiges Grollen ertönte, dann setzte sich auf einmal eine Geröllund Schlammlawine in Bewegung und begrub die Gruppe unter sich. Anschließend herrschte Totenstille. Ich hörte ganz deutlich die flehende Stimme meiner lieben Großmutter: ›Geh nicht, Rosalie, hörst du! Versprich esmir, Kind!‹ In dem Moment erwachte ich auch aus dem Traum und starrte mit klopfendem Herzen ins Dunkel des Zimmers. Ich sah noch immer alles deutlich vor meinen Augen, spürte auch mit jeder Faser meines Körpers die Anwesenheit meiner lieben Großmutter.«
»Lieber Himmel, Rosalie! Was hast du dann gemacht am Morgen?« – Amanda beugte sich vor und starrte die alte Frau gespannt an.
»Am Morgen war mir so übel, ich musste mich sogar übergeben. Meine Mutter lief zur Schule und sagte den beiden Lehrern, ich sei krank und müsse im Bett bleiben.«
»Und was geschah mit deiner Schulklasse?«
»Tja«, sagte Rosalie und wischte sich über die Augen. »Bis zum Abend hatte sich das Unglück bereits im Dorf und bis zu uns herumgesprochen. Einige meiner Klassenkameraden konnten nur noch tot geborgen werden. Auch einer der Lehrer war tot. Dem anderen war es gelungen, sich zu retten und Hilfe zu holen. Dieses Drama überschattet immer noch mein Leben, Amanda, weißt du. Ich machte mir lange bittere Vorwürfe, dass ich nichts erzählt hatte von meinem Traum. Noch nicht einmal meiner Mutter …« – Sie brach ab.
»Sie hätten dir nicht geglaubt, Rosalie. Und das weißt du. Du wusstest es auch damals, warst selbst irgendwo noch skeptisch, wolltest dich nicht zum Gespött machen. Es hätte nichts genützt, auch wenn du geredet hättest. Dich trifft keine Schuld.«
Die alte Frau sah immer noch unglücklich drein: »Ich wagte es auch später nicht. Niemals;«
»Jetzt hast du es mir erzählt. Und ich glaube dir«, sagte Amanda. »Und ich wiederhole nochmals: Dich trifft keine Schuld. Es war Schicksal.«
An dieser Stelle wechselte Rosalie völlig unerwartet das Thema.
»Woran arbeitest du im Moment, Amanda? Ich habe eben eine Figur gesehen, aus Marmor oder Stein gemacht. Sie hieß Liebesgöttin auf Abwegen . Die Vision kam mir nur für eine Sekunde, aber sie sah ganz nach einer deiner Arbeiten aus.«
»Von mir stammt sie nicht. Vielleicht hast du in die Zukunft geschaut?«
»Lach nicht, Kind. Es ist mir ernst. Außerdem habe ich eher das Gefühl, in die Vergangenheit geschaut zu haben. Die Figur existiert bereits, möchte ich behaupten. Möglicherweise schon sehr, sehr lange.«
»Schade«, sagte Amanda. »Der Titel könnte mir nämlich durchaus gefallen. Er löst gewisse Fantasien aus.« Sie musste erneut lachen.
Rosalie blieb ernst: »Die Figur hat mit dir zu tun. Du stehst mit ihr in enger Verbindung«, beharrte sie.
Auf einmal fiel Amanda wieder dieser Tag ein, an dem Ricardo zu ihr auf die Finca gekommen war und behauptet hatte, er wäre ihr in Trance in einem früheren Leben begegnet. Er sei ein Priester und sie ein junges Mädchen von adliger Abstammung
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