Die Liebesluege
Märchen und Sagen kommen beide Arten vor. Die guten Fabelwesen sind oft die Vermittler zwischen Mensch oder etwas Übersinnlichem. Die Bösen stoßen einen bösartigen oder nicht gefestigten, wankelmütigen Menschen vollends ins Unglück. Ich glaube, Niki de Saint Phalle hätte sich für ein böses Fabelwesen entschieden. Es ist dramatischer. Andererseits -«
Inzwischen hatte sie die Frage so gepackt, dass sie sie unbedingt zu Ende denken musste.
»Andererseits?«, wiederholte Crupinski behutsam.
»Wenn ich an die Lebensfreude ihrer Frauen denke … Die sind so positiv!« Sie hob die Schultern. »Jem und Max sollen entscheiden.«
»Ich bin immer fürs Positive. Wir basteln ein fröhliches Fabelwesen«, sagte Jem sofort. »Was meinst du, Max?«
»Einverstanden.«
Elena runzelte die Stirn, nickte dann aber auch.
Herr Crupinski wiegte den Kopf hin und her. Er schien etwas enttäuscht zu sein, sagte aber nichts und ging an seinen Tisch zurück.
Wenig später sah Elena, wie Charly auf die Uhr schaute, sich die Hände abwischte, zu Herrn Crupinski ging und ihm etwas zuflüsterte. Zuerst war er sichtlich erstaunt, dann machte er jedoch eine zustimmende Handbewegung. »Alle mal herhören, Charly hat euch etwas zu sagen!«
Frei und unerschrocken, die Beine leicht gespreizt, stand Charly vor der Klasse. »Gestern Abend war ich in der Kellerbar. Mir wurde gesagt, sie sei eine Gerüchtebörse: Jeder schaut, wer mit wem und wie weggeht. Ich habe auch erfahren, was vor meiner Zeit geschehen ist. Weil ich nicht gemobbt werden möchte, teile ich euch allen mit, dass ich es nicht auf Gordon abgesehen habe, allerdings kann mir niemand verbieten, mir meine Freunde auszusuchen, auch du nicht, Swetty, also halte dich aus meinen Angelegenheiten heraus. Und unterstell mir auch nicht, ich hätte es auf deinen Angebeteten abgesehen. Das war’s, was ich zu sagen hatte. Danke.«
Totenstill war es im Werkraum, aber dann, als Charly an ihren Platz ging, ließ sich anerkennendes Murmeln hören. Charly winkte Elena zu; Elena hob anerkennend den Daumen.
Max pfiff leise durch die Zähne. »Die Frau hat Mut.«
Das, so schien es, dachten alle. Alle außer Swetlana. »Mir ist ja so übel«, stieß sie verächtlich hervor und verließ den Raum - Valerie folgte ihr auf dem Fuße.
Herr Crupinski lächelte hintergründig. »Die Zeit ist um. Ihr solltet euch ans Aufräumen machen.«
Als Elena hinausgehen wollte, hielt er sie zurück. »Einen Augenblick noch.« Er wartete, bis alle, auch Max, Jem und Charly, den Raum verlassen hatten. »Du bist nicht glücklich über die Entscheidung der Jungs, stimmt’s?«, erkundigte er sich leise.
»Das fröhliche Fabelwesen wird bestimmt sehr schön«, entgegnete Elena ebenso leise.
»Das bezweifle ich nicht. Aber?«
»Herr Crupinski«, platzte sie heraus. »Wann ist das Fest?«
»Kurz nach den Osterferien. Warum willst du das wissen?«
»Hätten Sie wohl etwas dagegen … ich meine, könnte ich in meiner Freizeit das Gegenstück machen? Vielleicht samstags und sonntags?«
»Ja da schau her!« Verblüfft musterte Crupinski sie. »Warum nicht? Ich werde mit Professor Mori über deinen Wunsch reden und dir danach Bescheid geben. Aber sag mir, Elena, warum willst du deine freie Zeit nicht mit deinen neuen Freundinnen und Freunden verbringen?«
»Weil ich das Gegenstück schon vor mir sehe«, erwiderte sie arglos. »Das Fabelwesen hat etwas von einem Vogel und etwas von einem Menschen; es ist ein Zwitter, und das muss man sehen können. Ich möchte wissen, ob ich es so hinbekomme, wie ich es mir vorstelle.«
»Das«, sagte Herr Crupinski geradezu feierlich, »ist der eigentlich ausschlaggebende Grund, etwas zu erschaffen. Du hörst von mir.«
Kapitel 9
Freitag, 22. Februar
In der Nacht vom Donnerstag auf Freitag wurde Elena ausnahmsweise von keinem schlechten Traum geplagt. Dafür wurde Charly am nächsten Tag während der Englischstunde so übel, dass sie sich auf dem Klo übergeben musste. Elena hatte gesehen, wie bleich Charly wurde, war ihr hinterhergerannt und hatte ihr den Kopf gehalten.
»Du musst ins Bett, Charly«, drängte sie. »Ich bring dich hoch.«
Die Englischlehrerin, Miss Reeves, war sehr besorgt. Gemeinsam schleppten und zogen sie Charly die Treppe hoch, halfen ihr aus den Kleidern und deckten sie sorglich zu.
Noch vor dem Mittagessen schaute Elena nach Charly. Es schien ihr besser zu gehen, aber sie wollte nichts essen, sie wollte schlafen und in Ruhe gelassen
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