Die Liebesluege
vor dem Kamin, in dem trotz des lauen Abends ein Feuer brannte. Zu ihrer Linken saßen heute Herr Crupinski, Miss Reeves und Monsieur Grandjean, zu ihrer Rechten die Sportlehrer Mademoiselle Cugat und Mister Brent.
Elena und Charly saßen natürlich bei Max, Jem und den drei Freundinnen.
»Am liebsten würde ich auch hierbleiben«, sagte Charly.
»Ich auch«, antwortete Jem sofort. »Wenn ich an meine alten Freunde denken …« Er verzog das Gesicht. »Die sind einfach öde, weil sie nur Themen im Hirn haben wie ›Meine Lehrer, meine Noten, meine Freundin, meine Fernsehsendungen, mein Fußballverein‹. Ätzend, sag ich euch.«
»Klar, man kennt die Leute natürlich noch, aber man ist ein Fremder geworden, der nirgends mehr mitreden kann.« Max blinzelte Elena zu. »Nicht mal bei dem Thema: ›Meine Freundin ‹.«
Jem nickte bekümmert. »Charly, schau zu, dass du in den Pfingstferien hier bist. Ich überzeug meine Eltern -«
»Oho!« Charly streute Salz über ihre Pommes. »Was hat dein Wunsch mit mir zu tun?«
»Darling, er beneidet Max um die schönen Tage. Kann ich verstehen. Wisst ihr, was Sven und ich vorhaben?« Mia lächelte ihren Freund an, der neben ihr saß. »Meine Eltern sind weg, meine Oma hütet das Haus, und er besucht mich über Ostern. Ich schätze, wir haben es noch besser als ihr in Villa Rosa.«
Victoria machte tz-tz. »Mach dir bloß keine zu großen Hoffnungen. Soviel ich weiß, ist deine Großmutter nicht von vorgestern. Vielleicht lässt sie euch nicht aus den Augen - könnte ja sein, ihr ist die Tatsache entgangen, dass das
Thema Verhütung seit der Pille anders gehandhabt wird als in ihrer Jugend.«
Mia kicherte. »Meine Oma ist klasse. Stellt euch vor, sie hat mich gefragt, ob ich regelmäßig die Pille nehme. Das beweist doch, dass sie weiß, was abgehen wird.«
Wieder einmal fragte sich Elena, weshalb es in ihrem Elternhaus nicht sein konnte wie in anderen. Bei ihr zu Hause fanden Gespräche nicht statt, da wurde alles totgeschwiegen. Das hatte zur Folge, dass jeder sein eigenes eingeschränktes Leben führen konnte. Andererseits brauchte auch niemand etwas Wichtiges von oder über sich preisgeben, wenn sich jede Kommunikation auf banale W-Fragen beschränkte: Was essen wir heute? Wann kommt der Kaminfeger? Wie ist die Klassenarbeit ausgefallen? Warum ist die Telefonrechnung so hoch?
Nur gut, dass sie jetzt in Villa Rosa war und ein freieres Leben kennenlernte.
Dabei hatte ihr Vater das Internat als Strafe gedacht! Na, der Plan war ihm gründlich misslungen - dank ihrer Freundin Charly, dank Max, dank all der anderen am Tisch. Und natürlich dank der Lehrer, die ihr etwas zutrauten! Fast liebevoll sah sie zum Lehrertisch hinüber. »Frau Professor Mori müsste ein Ferienauffanglager für Elternflüchtlinge einrichten«, platzte sie heraus.
Verdutzt sahen alle zu Elena hinüber. Sophia-Leonie legte langsam Messer und Gabel auf den Teller. »Darling, weißt du, warum Frau Professor Mori auf deinen Vorschlag nicht eingehen würde? Bis auf Glückspilze mit absolutem Seltenheitswert - wie zum Beispiel Mia und Gordon - würden wir alle in Villa Rosa bleiben. Ich eingeschlossen.«
Elena beugte sich zu Mia hinüber. »Warum bist du hier?«
»Weil mir in Villa Rosa mehr geboten wird, als es meinen Eltern jemals möglich wäre«, antwortete sie. »Außerdem wollen sie, dass ich mich möglichst stressfrei von ihnen abnabele«, Mia lachte, »und dass ich selbstständig werde.«
Sophia-Leonie nickte. »Ich sag’s ja - Mias Verhältnisse haben absoluten Seltenheitswert.«
»Warum geht jemand in ein Internat?«, dozierte Jem. »Jugendliche Fehlleistungen wie beispielsweise Ladendiebstahl oder Drogenkonsum mit anschließendem Elternstress, grundsätzliche Verständnislosigkeit zwischen Erzeuger und Produkt, schlechte Leistungen … Welche Gründe gibt es noch?«
Charly lächelte spöttisch. »Wie wär’s mit Liebeskummer?«
Alle lachten, nur Jem runzelte die Stirn. »Worauf werden wir vorbereitet?«
»Natürlich für das, was man LEBEN nennt«, antwortete Mia prompt. »Schließlich sollst du später mal ein tüchtiger Banker oder Jurist werden, oder …«
»Pst«, machte Victoria. »Frau Professor Mori hält ihre Ferienantrittsrede.«
Elena schob schnell den letzten Bissen in den Mund, dann lehnte sie sich zurück und hörte zu.
Sehr aufrecht stand Professor Mori am Tisch. Die Flammen im Kamin hinter ihr brannten ruhig, alle Gespräche waren verstummt, keine Gabel, kein Messer
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