Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
stieß zitternd die Luft aus.
Alderan grinste wieder; es wirkte keineswegs unfreundlich.
In die Menge vor ihnen kam Bewegung. Der Druck ließ nach, und schließlich spuckte das Tor sie in den Abendsonnenschein hinaus. Als sie die Häuser hinter sich gelassen hatten, die sich von außen gegen die Stadtmauer lehnten, lenkte Alderan sein Pferd an den Rand der Straße und hielt im Schatten eines Wäldchens an.
»Das war doch gar nicht so schlimm, oder?«, meinte er. »Bis Sonnenuntergang bist du sicher, und danach werden sie nach einem Flüchtling suchen und nicht nach einem anmaßenden jungen Herrn, der einen Ausritt aufs Land macht.« Gair sträubte sich innerlich gegen diese Beschreibung. »Verzeih meine Wortwahl, aber genau so siehst du aus. Es liegt an der Art, wie du dich hältst – als würde dir die Welt gehören. Es würde nie jemand auf den Gedanken kommen, dass du noch vor ein paar Stunden bewusstlos geprügelt worden bist.«
»Anmaßend?«, wiederholte Gair.
»Das ist vielleicht eine Familieneigenschaft.«
»Ich habe keine Familie. Ich wurde wenige Tage nach meiner Geburt auf dem Vorplatz einer Kapelle gefunden.«
»Weißt du, das klingt nach einer interessanten Geschichte«, meinte Alderan. »Der Waisenjunge mit dem kronenförmigen Geburtsmal, das ihn als den verloren geglaubten Erben des Königreichs ausweist …«
Gair schüttelte den Kopf. »Keine Krone. Kein Königreich. Nur ein Soldatenbalg, der kurzerhand ausgesetzt wurde.« Das alles hatte er sich schon vor langer Zeit zusammengereimt. Sein Namenstag, also der Name des Tages, an dem er geboren worden war, lag dicht bei der Wintersonnenwende. Wenn seine Mutter eine normale Schwangerschaft gehabt hatte, bedeutete das, dass er im frühen Frühling gezeugt worden war, also zu der Zeit, da die örtlichen Rekruten auf ihrem Weg nach Leahaven und zur Einschiffung nach Zhiman-dar waren, wo die Armee sich für den letzten und entscheidenden Schlag gegen den Kult gesammelt hatte. Es bedurfte nur geringer Fantasie, sich den Rest vorzustellen.
Vielleicht war sein Vater ein tapferer Krieger gewesen, einer der Tausenden, die im blutigen Sand von Samarak zu Tode gekommen waren. Oder die Wahrheit war weniger ruhmreich – ein Dorfmädchen war von einem Gefolgsmann geschwängert worden und zu arm oder zu beschämt gewesen, um das Kind zu behalten, nachdem der Soldat längst weitergezogen war.
Mit geschürzten Lippen beobachtete Alderan ihn einen Moment lang, dann sah er mit zusammengekniffenen Augen auf die staubige Straße am Südufer des Awen und auf die untergehende Sonne. »Wir sollten weiterziehen. Ich vermute, uns bleiben noch zwei Stunden gutes Tageslicht. Bist du bereit zu einem Galopp?«
Gair rutschte im Sattel hin und her. Seine Prellungen und Blutergüsse schmerzten nun bei jeder Bewegung des Pferdes. Die Blutkrusten verfingen sich im Stoff seiner Kleidung und verursachten ihm überall an Rücken und Beinen ein Stechen, aber es war sein Bauch, den die Befrager am härtesten bearbeitet hatten. »Ich kann es versuchen.«
»Dann sollten wir ein wenig mehr Entfernung zwischen uns und die Stadt bringen.«
Die Straße folgte dem Verlauf des Flusses nach Westen und Süden am Rande des Tals bis zum Moor, wo sie sich gabelte. Gair zügelte sein Pferd, drehte sich im Sattel um und schaute zurück. Aus dieser Entfernung war Dremen kaum mehr als eine Ansammlung blauer Schieferdächer und Kirchtürme, die durch den Abenddunst stachen. Es sah nach dem aus, was es war: eine Provinzhauptstadt voller gewöhnlicher Leute, die ein gewöhnliches Leben führten – wenn da nicht die Stadt in der Stadt gewesen wäre, die sich auf einem kleinen Hügel ein wenig nördlich des Zentrums erhob. Blasse Mauern umschlossen ein prächtiges Ensemble von Türmen und vergoldeten Kuppeln, wo das Sonnenlicht in Fensterscheiben glitzerte und Banner von jeder Zinne hingen. Die höchsten Türme waren die der Sakristei; sie strebten in den Himmel, als wollten sie die Pracht der Göttin höchstpersönlich berühren.
Beinahe genauso hoch erhob sich hinter der Zitadelle das Mutterhaus. Es war ein düsteres, reizloses Bauwerk aus grauem dremenischen Granit, das viereckig im Norden aufragte und die massive Umfriedungsmauer wie einen gepanzerten Arm um die innere Stadt gelegt hatte. Die Türme waren schmucklos und glatt und die Fenster bloße Schlitze. Der suvaeonische Orden schützte die Kirche nun schon seit mehr als zweitausend Jahren, verteidigte sie gegen die Ungläubigen mit den
Weitere Kostenlose Bücher