Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
echt gewirkt.«
»Wie ist das passiert?«
»Mein Vater hat immer gesagt, es sei an der Zeit, dass er endlich von seinem hohen Ross herunterkomme. Eines Tages habe ich ihn mit ein paar anderen Bauern gesehen. Er hat sich benommen, als sei er der Gutsherr persönlich, und da ist mir plötzlich der Gedanke gekommen, dass er weniger aufgeblasen aussehen würde, wenn sein Hut in Flammen stünde. Einen Augenblick später ist er kreischend herumgelaufen und hat die Flammen ausgeschlagen.«
»Und deswegen hat dich deine Familie hierhergeschickt?«
»Nein, nicht sofort. Sie haben damals noch nicht gewusst, dass ich dafür verantwortlich war. Das haben sie erst vermutet, als ich mein Bett in Brand gesteckt habe. Mir war so kalt!«, verteidigte er sich, als er Gairs skeptische Miene sah. »Ich hatte bloß versucht, die Wärmepfanne zu erhitzen, und dabei habe ich es wohl übertrieben.«
»Ich nehme an, du hast inzwischen gelernt, wie du es kontrollieren kannst? Ich will nicht eines Morgens aufwachen und feststellen müssen, dass der ganze Schlaftrakt in Flammen steht.«
»Ich werde dafür sorgen, dass ich dich rechtzeitig aufwecke«, versprach Darrin. »Wie hast du deine eigenen Gaben bemerkt?«
Gair schob seinen Teller beiseite und lehnte sich gegen die Wand, während er den Becher weiterhin in der Hand hielt. »Ich habe Marzipan gestohlen«, sagte er. »Kleiner Junge, hohes Bord.«
Darrin machte eine Geste der Anerkennung, und Gair hob seinen Becher zum Salut. »Ich hatte nicht gewusst, dass ich anders bin, bis ich jemandem meine Tat gebeichtet habe und versohlt worden bin, weil ich angeblich Lügen erzählt hatte. Danach habe ich alles für mich behalten.«
»Lass mich raten – du magst kein Marzipan mehr?«
»Schon der Geruch verursacht mir Übelkeit.«
Nach dem Abendessen sagte Darrin, er habe Renna versprochen, sich mit ihr zu treffen, und ließ Gair allein zurück. Auf dem Weg zum Badehaus bog er nur einmal falsch ab, und nach einem angenehmen Einweichen kehrte er auf sein Zimmer zurück. Er öffnete die beiden Fenster weit, damit der Geruch des Meeres hereindringen konnte, packte dann seine wenigen Habseligkeiten aus und verstaute sie. Danach setzte er sich auf die Kante des Schreibtischs und schaute auf die Weiden, die in allen Farben der untergehenden Sonne erstrahlten.
Hier also würde er von nun an leben. Es war in keiner Hinsicht mit dem Mutterhaus vergleichbar. Die Narbe auf seiner Hand hatte bisher niemanden gestört, und er war sich sicher, dass mindestens zwei oder drei Personen sie gesehen hatten. Außerdem ging es im Kapitelhaus viel weniger förmlich zu. Alle redeten und lachten miteinander auf den Gängen, und die Meister schienen nicht unnahbar zu sein. Alles machte den Eindruck einer großen Familie. Sie gehörten hierher und hatten ihn in ihrem Hause willkommen geheißen – nicht trotz, sondern wegen dessen, was er war.
Gesangsfetzen trieben mit dem Wind zu ihm. Die Vesper. Selbst nach neun Wochen spürte Gair noch den Sog der vertrauten Routine. Der Tagesablauf im Haus der Göttin hatte sich tief in ihn eingegraben. Er musste nur die Augen schließen und sah die polierte Eiche hinter dem Altar, die im Glanz von tausend Kerzen erstrahlte. Er hörte, wie Danilars wohlklingende Stimme die heiligen Gesänge anstimmte, und er hörte das Wispern der Antworten. Was würde der Kaplan von diesem Ort halten?
Gair schaute hinunter auf das Buch Eador, das er in der Schublade gefunden hatte. Es war gedruckte Massenware, im Gegensatz zu den verschwenderisch illuminierten, handgeschriebenen Bänden, die im Skriptorium der Kirche hergestellt wurden. Der Ledereinband war zerkratzt, und die Seiten hatten Eselsohren vom vielen Umblättern. Er öffnete das Buch an der Stelle, an der sich das Lesebändchen befand. Schönheiten, Kapitel acht: Seid willkommen, all ihr Reisenden. Seid willkommen im Hause der Göttin, wo immer ihr euch auf eurer Reise befinden möget. Fühlet euch wohl in diesem Hause, damit euch Bürde und Sorgen genommen werden .
Seit er alt genug war, sich ohne fremde Hilfe an die Worte zu erinnern, sprach Gair seine Nachtgebete und den Segen über jede Mahlzeit, und es hatte Zeiten gegeben, da war er sicher gewesen, dass die Göttin zu ihm sprach. Er hatte den Messen beigewohnt und war, wenn er die Geschichten der Verdammnis hörte, wohlig erschauert, während er von ganzem Herzen gehofft hatte, dass er seinen Platz im Himmel finden würde – auch wenn in jenen Tagen seine Vorstellung vom
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