Die Lieferung - Roman
ihre Ohren nahmen etwas wahr, ein leises, andauerndes Wimmern wie von einem gefangenen Tier.
Mikas.
Sie wusste sofort, dass er es war. Das Weinen klang gedämpft, wie aus einer anderen Welt. Aber wo war er?
Nina streckte eine Hand aus und stieß gegen eine glatte, kalte Glasfläche. Ein Fenster. Sie saß im hinteren Teil eines Wagens, vielleicht einer Art Lieferwagen. Der Boden war mit kratzigem Filz ausgelegt, der sich neu anfühlte. Sie tastete sich an den Kanten entlang, bis ihre Finger ein Hundegitter oder etwas Ähnliches streiften. Ihre Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit, und sie erahnte die Umrisse einer Tür. Der Geruch von Motorenöl und Auto setzte sich in ihrer Nase fest. Sie musste sich in einer Garage oder Werkstatt befinden, dachte sie. Der Mann war offensichtlich nicht da, aber das Geräusch von Mikas’ Weinen drang ununterbrochen durch das Hundegitter.
Er hatte Angst.
»Mikas!«
Nina wartete und lauschte in die Dunkelheit. Eine Welle der Übelkeit riss sie mit, ihre Zunge fühlte sich groß und unförmig an, als sie zu sprechen versuchte.
Sie rief noch einmal seinen Namen und rüttelte vorsichtig an dem Gitter.
»Mikas, du musst keine Angst haben. Ich bin ganz in der Nähe.«
Der Junge konnte sie natürlich nicht verstehen, ermahnte sie sich, aber zumindest wusste er jetzt, dass er nicht allein im Dunkeln war, und vielleicht hatte er ja ihre Stimme wiedererkannt. Einen Augenblick war es still, als säße der Junge ebenfalls da und lauschte in die Dunkelheit. Dann setzte das leise, tonlose Weinen wieder ein.
Nina kniete sich hin und tastete den Boden des Autos ab. Sie strich mit den Händen an den Kanten entlang und bohrte prüfend ihre Finger in jede Kerbe und Vertiefung. Und plötzlich
war da etwas. Ein glatter, flacher Ring, unmittelbar an der Rückwand der Rückbank, diskret im Boden versenkt. Nina zog vorsichtig daran und merkte, wie Boden und Filz sich unter ihr bewegten. Sie hatte eine Art Luke im Wagenboden entdeckt. Mit einiger Anstrengung schob sie den Arm in den Hohlraum unterhalb der Luke. Zuerst ertastete sie die raue Rundung des Ersatzreifens und danach einen Behälter aus weichem Plastik, in dem etwas Hartes lag. Sie zog den Beutel heraus und öffnete ihn mit einem Anflug von Triumph. Es war das Werkzeugset.
Falls der Typ vom Bahnhof sich ausgerechnet hatte, dass sie an einer schlampig verknoteten Plastiktüte über dem Kopf sterben würde, hatte er sich getäuscht. Und ebenso täuschte er sich, wenn er glaubte, sie würde brav an ihrem Platz bleiben.
Nina fühlte, wie sich ein Schuss Verachtung unter ihre wachsende Wut mischte. Sie waren doch alle gleich. Geier, die auf das Fleisch der Schwächsten lauerten. Pädophile, Vergewaltiger, Zuhälter. Dieser ganze Dreckshaufen mieser Gangster. In Wirklichkeit waren sie nur kleine, arme, dumme Menschen. Nicht mehr und nicht weniger.
Er war keine Ausnahme. Aber er würde Mikas nicht bekommen. Und sie auch nicht.
Nina nahm einen Schraubenschlüssel aus der Werkzeugtasche und schwang ihn probehalber durch die Luft. Sie wusste nicht, wo der Kerl steckte, aber er hatte Mikas im Auto gelassen, was wohl bedeutete, dass er zurückkommen würde. Er war schließlich wegen des Jungen hinter ihr her gewesen. Offenbar brauchte er ihn für irgendetwas. Nina fürchtete, dass es zu viel Lärm machte, wenn sie die Scheibe einschlug, also legte sie den Schlüssel wieder weg und tastete nach den Ecken des Hundegitters. Die Schrauben, mit denen es festgemacht war, waren leicht zu finden, selbst in der Dunkelheit, und der
zweite Schraubenzieher aus dem Behälter hatte die passende Größe. Nina beugte sich vor und löste die Schrauben nacheinander, bis sie das ganze Gitter abnehmen konnte.
»Mikas?«
Sie hörte ihn nicht mehr.
Sie quetschte sich über die Nackenstützen und ließ sich neben einen Kindersitz fallen. Der Junge zuckte zusammen. Als sie die Seitentür aufstieß, fiel grelles weißes Licht auf den Jungen, der sie erschrocken anblinzelte. Sie war sich nicht sicher, ob er sie wiedererkannte. Er war angeschnallt, wie man einen Dreijährigen anschnallte, wenn man mit ihm zu den Großeltern oder zur Kirmes fahren wollte. Mikas’ kurze, kraftlose Finger strichen über den strammen Gurt, und seine Lippen bewegten sich in stummem Weinen.
Sie streckte den Arm aus und löste den Gurt mit einem leisen Klicken.
Da fiel ein Schuss.
Anne und die andere Frau lagen mit den Händen über dem Kopf auf dem Steinboden, wie die
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