Die Lieferung - Roman
- ein Wort, das ganz ausgezeichnet zum Ausdruck brachte, wie man aus kleinen Problemen große machen konnte und zu nichts mehr wirklich in der Lage war, nicht mal zum Schlafengehen.
Hätte Nina doch nicht auch noch das Auto genommen, dachte Morten. Wie gern hätte er sich an diesem Tag den Fußweg zurück vom Hort mit einem nörgelnden Siebenjährigen im Schlepptau erspart. Es war natürlich unter Antons Würde, an Mortens Hand zu laufen, andererseits blieb der Junge aber immer stehen und trödelte, wenn Morten ihn nicht antrieb.
Sie hatte sich auf ihrer Arbeit gemeldet, aber nicht bei ihm. Magnus rief ihn aus dem Kulhuslager an und sagte fast entschuldigend, sie sei okay und ließe ihm ausrichten, dass er sich keine Sorgen machen solle.
Natürlich war es gut zu wissen, dass sie nicht ermordet in einem Gebüsch in der Sommerhaussiedlung lag, aber das war auch schon alles. Sie war irgendwo dort draußen, in einer Parallelwelt, zu der er keinen Zugang hatte und in der an jeder Ecke Gewalt und Katastrophen lauerten. Und der Tod. Morten wusste ganz genau, wie irrational diese Gedanken waren, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass Nina bei der Heimkehr von ihren Einsätzen diese Welt mit nach Dänemark gebracht hatte, so dass sie nicht mehr sorglos hinter ihrer Schrebergartenhecke leben konnten.
»Ich hab Hunger«, sagte Anton.
»Wir essen ein Roggenbrot, wenn wir zu Hause sind.«
»Ich mag kein Roggenbrot«, sagte Anton.
»Doch, magst du schon.«
»Nein, da sind Kerne drin …«
Morten seufzte. Antons schlechte Laune kam und ging. Wenn er ausgeschlafen war, froh und unbeschwert, aß er Oliven und Brokkoli, ja sogar Hähnchenleber und andere seltsame Sachen. Doch an anderen Tagen schrumpfte die Bandbreite derart zusammen, dass er fast nur noch Haferflocken mit Milch aß. Man wusste nie wirklich, was man ihm auftischen konnte, ohne dass es zu Streit und Konflikten kam.
»Wir finden schon etwas«, sagte er vage.
»Ja, aber ich habe jetzt Hunger.«
Morten gab auf und kaufte ihm ein Eis.
Im Flur hing ein Geruch, der ihn warnte, noch bevor er den Fuß über die Türschwelle setzte. Er blieb stehen. Anton war noch auf der Treppe, die er mit seiner seltsamen Methode - zwei Stufen hoch und eine runter - hinaufstieg. Die Sprünge nach unten wurden in der Regel so ausgeführt, dass sie möglichst viel Krach machten.
Er schaltete das Licht ein. Das Dunkel im Flur verschwand, und aus den schwarzen Silhouetten wurden Mäntel, Halstücher, Schuhe, Stiefel und ein Skateboard. Auf dem ausgetretenen Dielenboden befand sich ein beängstigend großer, bereits angetrockneter Blutfleck. Und nicht weit davon lag eine Schale Cornflakes in einer Milchpfütze. Der Fleck daneben musste, dem Geruch nach zu urteilen, Urin sein.
»Anton«, sagte er scharf.
Der Junge sah ihn vom Treppenabsatz unter ihm an, ohne zu antworten.
»Sieh mal nach, ob Birgit zu Hause ist. Vielleicht kannst du mit Mathias spielen.«
»Ich hab aber Hunger …«
»Tu jetzt, was ich dir sage.«
Anton sah ihn erschrocken an. Morten hätte ihn gern getröstet, konnte jetzt aber nicht. Die Angst in ihm ließ keinen Platz für andere Empfindungen. Er schloss die Wohnungstür und klingelte selbst bei den Nachbarn. Mathias öffnete die Tür, aber Birgit war gleich hinter ihm.
»Hallo«, grüßte sie. »Ist bei euch eingebrochen worden?«
»Warum fragst du das?«, fragte Morten besorgt.
»Ich habe heute Morgen einen Streifenwagen gesehen.«
»Ach das, äh, ja … also, ich wollte fragen, ob Anton vielleicht eine Stunde bei euch bleiben könnte? Das ist eine lange Geschichte, ich erzähle es dir später.« Er weckte ganz bewusst ihre Neugier, denn er wusste, dass dies eine der wichtigsten Triebfedern in Birgits Leben war.
Sie konnte es nicht ausstehen, hingehalten zu werden, andererseits schien sie Mortens Anspannung zu bemerken.
»Okay«, sagte sie. »Mathias, du kannst Anton dein neues Spiel zeigen.«
»Super!«, rief ihr Sohn, und auch Antons Gesicht hellte sich auf. Sie rannten über den Flur in Mathias’ Zimmer.
»Danke«, sagte Morten.
Birgit blieb in der Tür stehen und versuchte diskret einen Blick in die Nachbarwohnung zu werfen, als Morten seine Haustür öffnete. Er glaubte aber nicht, dass sie etwas sehen konnte.
Er machte einen Bogen um das Blut, den Urinfleck und die Cornflakes. Danach warf er einen Blick in die Küche und ins Wohnzimmer. Niemand da. Auch Idas Zimmer war leer. Sie war anscheinend noch immer bei ihrer Freundin
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