Die Lieferung - Roman
zusammen. Nina konnte sich nicht vorstellen, dass die so alltägliche, lebensfrohe und bequeme Karin in irgendeiner Weise mit etwas Schmutzigem, Ungesetzlichem oder gar Gefährlichem zu tun haben sollte. Andererseits war da diese ungewohnte Panik in ihrer Stimme gewesen. Das war so nicht abgesprochen. Was hatte sie damit gemeint?
Sie nahm den Koffer aus dem Schließfach. Er war schwerer, als sie gedacht hatte, er wog sicher an die 20 Kilo. Kein Koffer, mit dem man weite Strecken läuft, dabei war es recht weit bis in die Tiefgarage in der Nyropsgade, in der sie ihren Fiat geparkt hatte. Doch auf dem Hauptbahnhof von Kopenhagen wimmelte es nicht gerade von Gepäckwagen, so dass ihr wohl nichts anderes übrig blieb, als den Koffer zu schleppen.
Das junge Pärchen hatte den Rucksack geöffnet und begonnen, Kleider, Schuhe und Kulturbeutel herauszunehmen, damit er doch noch ins Schließfach passte. Der junge Mann ließ
die Kulturtasche fallen, die mit einem Klirren auf dem Boden aufschlug. Mascara, Eyeliner und ein kleiner Tablettenbehälter kullerten über den Boden, und das Deodorant rollte über den Mittelgang bis vor ihre Füße.
»Oh, hell«, sagte der Mann. »Sorry.«
Nina lächelte mechanisch. Dann packte sie den Griff des Koffers und ging los, wobei sie sich Mühe gab, ganz natürlich auszusehen. Mein Gott, war der schwer. Was zum Teufel konnte denn da drin sein?
Erst als sie in der Tiefgarage war, öffnete sie den Koffer. Und fand den Jungen.
Er war bewusstlos. Seine Haut war kühl, aber nicht eiskalt. Der Autopilot in ihr konstatierte professionell, dass der Puls schwach war, der Junge aber wohl nicht in Lebensgefahr schwebte. Sein Atem ging tief und langsam, seine Pupillen waren etwas verkleinert. Er hat irgendwelche Medikamente bekommen, dachte sie. Er würde ihr nicht unter den Händen wegsterben, aber er brauchte einen Arzt. Und Flüssigkeit. Vielleicht ein Gegengift, wenn es ihnen denn gelang herauszufinden, was man ihm gegeben hatte. Sie nahm ihr Handy und drückte zweimal die 1 … doch dann zögerte sie, bevor sie den Finger auf die 2 legte.
Sie musterte den Koffer. So gewöhnlich. So normal. Der Riss im Leder hatte ihm das Atmen erleichtert, sie wusste aber nicht, ob das Zufall war oder ob jemand den Koffer mit Absicht angeritzt hatte, damit er überlebte. Man packt keine Kinder in einen Koffer, wenn man sich wirklich Gedanken um ihr Wohlergehen macht.
Das hallende Geräusch von Schritten drang zu ihr, dann knallte eine Autotür und ein Motor startete. Das Brummen hallte von den kahlen Betonwänden wider, und sie duckte sich
instinktiv hinter den Container, um nicht gesehen zu werden. Warum? Warum stand sie nicht einfach auf und rief um Hilfe? Aber das tat sie nicht. Durch einen Spalt sah sie silberfarbenes Metall und eine glänzende Alufelge, dann war das Auto weg. Auf dem Weg nach draußen, zum Glück.
Sie musste das Kind irgendwie zu ihrem Auto bringen, aber wie? Sie brachte es nicht übers Herz, den Koffer einfach wieder zu schließen und ihn wie einen Gegenstand zu ihrem Wagen zu tragen. Schließlich rannte sie zu ihrem Fiat, holte die alte karierte Decke aus dem Kofferraum, legte sie um den Jungen und trug ihn so zum Auto. Eine Mutter mit einem Kind, dachte sie. Wenn mich jemand sieht, habe ich gerade meinen müden kleinen Jungen aus dem Kindergarten abgeholt.
Er fühlte sich jetzt viel leichter an als im Koffer. Sie spürte seinen Atem warm an ihrem Hals. Mein Gott, dachte sie.
Sie legte ihn auf den Rücksitz und überprüfte noch einmal seinen Puls. Er schlug bereits wieder ein bisschen schneller, als reagierte er trotz allem ein bisschen auf die Umgebung. Sie nahm die Halbliter-Wasserflasche, die auf dem Beifahrersitz lag, öffnete sie und befeuchtete seine Lippen mit einem Finger. Seine Zunge bewegte sich. Er war nicht weit weg. Nicht tief bewusstlos.
Krankenhaus, Polizei. Polizei, Krankenhaus. Andererseits - wenn es nur darum ging, die 112 anzurufen - warum hatte Karin es dann nicht selbst getan? Karin, verdammt, fluchte sie innerlich. In was für einen Mist bist du denn da verwickelt worden? »Ich kann da nichts machen, aber du«, hatte sie gesagt. Aber was, bitte, soll ich denn tun?
Montagmorgen wurde Sigita endlich entlassen. Sie hatte Darius wieder und wieder angerufen, aber immer nur diesen bescheuerten Anrufbeantworter bekommen.
Sie verstand noch immer nichts. Sie trank nicht, jedenfalls nicht genug, um davon betrunken zu werden. Und warum hatte sie Mikas
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