Die Lieferung - Roman
ihrer Freunde zum Kauf zu überreden.
Ihr Vater hatte den Anschluss verpasst, als die Russen gegangen waren. Damals in der Sowjetzeit war er Kontrolleur in einer Konservenfabrik gewesen. Er verdiente dort nicht viel mehr als die Leute am Fließband, aber damals hatte nicht das Geld gezählt, sondern die Verbindungen. Man konnte nicht einfach kaufen, was man wollte, man musste es sich beschaffen. Und oft war ihr Vater der Mann gewesen, der das Gewünschte beschaffen konnte.
Jetzt war die Fabrik geschlossen. Sie verfiel hinter einem Stacheldrahtzaun, ein grauschwarzer Koloss mit leeren Fenstern, umgeben von Unkraut, das aus den Ritzen des Betons wuchs. Die alten Verbindungen waren heute nichts mehr wert, im Gegenteil. Heute kamen solche Leute am besten zurecht, die sich aufs Handeln verstanden, aufs Reparieren, Bauen und Organisieren. Vor und hinter den Kulissen.
Sigita stand auf. Die Sonne traf sie wie ein Hammer, und plötzlich wusste sie nicht mehr, wohin sie gehen wollte.
»Gehst du schon?«, fragte Milda. »Willst du nach Hause und ein Hotel buchen?«
In diesem Augenblick war er wie ein rettender Engel aufgetaucht.
»Sigita? Du hast doch wohl nicht vergessen, dass wir am Samstag nach Kaliningrad wollen?«
Darius. Sonnengebräunt, blond und mit dieser nonchalanten Selbstsicherheit, die keiner der anderen Jungen hatte. Sein Hemd stand schamlos offen, so dass man das weiße T-Shirt darunter sehen konnte, und keines der Teile kam aus Polen.
»Nein«, sagte sie. »Das wird klasse. Hast du gehört, dass Milda in den Ferien nach Miami fährt?«
»Tja«, sagte er. »Dann grüß mal meinen Onkel, der wohnt da auch.«
Erst Jahre später hatte sie erkannt, dass Darius’ glänzende Rüstung dünn wie eine Eierschale war. Er konnte sie nicht retten, das hatte er eigentlich nie gekonnt. Weiß Gott, was er jetzt mit Mikas machte. Was, wenn ihr kleiner Sohn jetzt irgendwo in einer Kneipe hockte und Darius’ Saufkumpane ihn mit Schnaps abfüllten? Nein, sie musste versuchen, so schnell wie möglich aus diesem verfluchten Krankenhaus zu kommen.
Die Bahnhofshalle war voller Menschen, die sich montäglich gereizt aneinander vorbeidrängelten. Die Luft war verbraucht und stank nach Schweiß. Die Leute litten unter der Hitze, alle schwitzten, und über die Lautsprecher war zu hören, dass der Zug nach Helsingør, planmäßige Abfahrt 13.11 Uhr, circa 20 Minuten verspätet war. Nina war so angespannt, dass die körperliche Nähe all dieser fremden Menschen sie störte. Sie versuchte, beim Gehen möglichst niemand zu berühren, was bei dem Gedränge aber fast unmöglich war. Endlich erreichte sie die Treppe und konnte der Menge entfliehen wie durch einen Tunnel. Der Geruch nach Burgerfett und Putzmittel war hier unten schwächer, dafür stank es nach Urin.
Die Metallschränke bildeten mehrere weiß zerkratzte Reihen, an denen schwarze Nummern standen. 56, 55. Rasch warf sie einen Blick auf den Plastikchip. 37-43. Verdammt, wo war der Abschnitt 37?
Sie fand ihn schließlich etwas abseits in einem Seitengang des belebten Hauptraums. Außer ihr befanden sich hier nur zwei andere Menschen - ein junges Interrail-Pärchen, das einen zum Platzen gefüllten Rucksack in einen Schrank zu pressen versuchte.
»It won’t fit«, sagte das Mädchen. »I told you. It’s too big.«
Amerikaner, oder vielleicht Kanadier. Sollte sie warten, bis sie gegangen waren? Andererseits konnten jederzeit andere Touristen auftauchen, außerdem waren die zwei ganz von ihrem Kampf mit dem Rucksack gefangen. Sie steckte die Münze
in das Automatensystem des Abschnitts 37. Ein metallisches Klicken war zu hören, und das Schließfach Nr. 43 sprang auf.
Darin stand ein dunkelbrauner, speckig glänzender, ziemlich altmodischer Lederkoffer mit einem langen Kratzer auf der einen Seite, durch den man das grüne Futter erkennen konnte. Ansonsten war der Koffer unauffällig. Natürlich fehlten Adresszettel oder Gepäckaufkleber. Sie wusste genau, dass es dumm wäre, den Koffer jetzt zu öffnen. Wer seinen eigenen Koffer vom Bahnhof abholt, öffnet ihn normalerweise nicht, um nachzusehen, was sich darin befindet. Außerdem hatte Karin gesagt, sie solle mit dem Öffnen warten, bis sie allein war.
Karin, in was hast du dich jetzt wieder verstrickt?, fragte sie sich im Stillen. Und konnte die Sache gleichzeitig nicht ganz ernst nehmen, weil Karin so … so … sie wusste nicht, wie sie es bezeichnen sollte. Karin und Abenteuer, das passte einfach nicht
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