Die Lieferung - Roman
linken Unterarmes. Sie können von Glück reden, dass es so glimpflich ausgegangen ist!«
Eine Treppe? Sie konnte sich an nichts erinnern. Nach dem Kaffee und dem Spielplatz und Mikas im Sandkasten mit seinem Lastwagen war alles weg.
Es war eine richtige Erleichterung , das Zentrum verlassen zu können, dachte Nina, als sie in das Parkhaus des Lifestyle-Kaufhauses Magasin fuhr und ihren Wagen zwischen eine Säule und einen breiten silberfarbenen Mercedes quetschte. Manchmal machte die Machtlosigkeit sie müde. Was war das nur für ein Land, für eine Welt, in der junge Mädchen wie Natasha gezwungen waren, sich an Männer wie diesen Scheißkerl zu verkaufen, um so eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen?
Sie fuhr mit dem Aufzug ganz nach oben. Der Essensduft überwältigte sie, als sie aus dem Fahrstuhl trat - der milde Duft von Leberpastete, gemischt mit dem Geruch von Frittieröl und Kaffeearoma. Sie sah sich im Cafébereich um und entdeckte schließlich Karins blonden Schopf. Sie saß in einem ärmellosen weißen Sommerkleid, das wie die Freizeitvariante einer Krankenschwesteruniform wirkte, an einem Tisch neben der Kinderspielecke. Ihre Hand ruhte auf einer schwarzen Aktentasche auf dem Stuhl neben ihr, während sie mit der anderen Hand pausenlos ihre Kaffeetasse hin und her drehte.
»Hallo«, begrüßte Nina sie. »Was steht an?«
Karin sah hoch.
Nina konnte das Funkeln in den Augen ihrer alten Freundin nicht recht einordnen. Es sah irgendwie verbissen aus.
»Du musst etwas für mich abholen«, bat sie und legte einen runden Plastikchip vor sich auf den Tisch. Ein Schlüsseljeton,
dachte Nina, wie man sie für öffentliche Garderobenschränke verwendet.
Nina wurde ungeduldig.
»Jetzt hör schon auf mit deiner Geheimniskrämerei. Was muss ich abholen?«
Karin zögerte.
»Einen Koffer«, sagte sie schließlich. »Aus einem Gepäckfach am Hauptbahnhof. Öffne ihn auf keinen Fall, ehe du das Gebäude verlassen hast. Und beeil dich.«
»Karin, verflucht noch mal, das klingt, als wäre der Koffer voller Kokain oder so was.«
Ihre Freundin schüttelte den Kopf.
»Nein. Das ist es nicht. Es ist …« Sie brach mitten im Satz ab, und Nina nahm kaum unterdrückte Panik wahr. »Das war so nicht abgesprochen«, fuhr Karin hektisch fort. »Ich kann das nicht. Ich kann das nicht, aber du kannst das. Du weißt, was man machen muss.«
Karin sprang auf, als ob sie gehen wollte. Auf dem Tisch zwischen ihnen lag der Schlüsseljeton. 37-43 stand mit weißen Ziffern auf dem kleinen schwarzen Plastikchip.
»Du rettest doch so gerne Menschen, oder?«, fragte Karin mit unüberhörbarer Bitterkeit in der Stimme. »Jetzt hast du eine Gelegenheit. Aber du musst dich beeilen.«
»Was hast du vor?«
»Ich werde nach Hause fahren und meinen Job kündigen«, sagte Karin knapp. »Und dann werde ich wohl verreisen.«
Sie lief im Zickzack zwischen den Tischen hindurch Richtung Ausgang, die Aktentasche unter den Arm geklemmt. Warum trägt sie sie nicht am Griff?, fragte sich Nina. Es sah irgendwie verkehrt aus.
Nina unternahm keinen Versuch, sie aufzuhalten. Dann blickte sie auf den kleinen glänzenden Jeton. Ein Koffer. In einem Gepäckfach. Du rettest doch so gerne Menschen, oder?
»In was bist du da bloß wieder reingeschlittert, Karin?«, murmelte sie. Sie hatte das Gefühl, dass es das Gescheiteste wäre, einfach zu gehen. Den Jeton Nr. 37-43 auf dem fleckigen Cafétisch liegen zu lassen, dem Ganzen den Rücken zu kehren und einfach zu gehen.
»Ach, Scheiße«, schimpfte sie und steckte ihn ein.
»Frau Mažekienė? Hier spricht Sigita.«
Es dauerte etwas, bis Frau Mažekienė antwortete.
»Sigita. Gott sei Dank. Wie geht es Ihnen?«
»Inzwischen wieder besser. Aber ich darf erst morgen wieder nach Hause. Ist Mikas bei Ihnen?«
»Aber nein. Der ist doch bei seinem Vater.«
»Bei Darius?«
»Ja. Er hat ihn doch noch geholt, bevor … aber Schätzchen, erinnern Sie sich denn nicht?«
»Nein. Sie sagen, ich hätte eine Gehirnerschütterung. Es gibt so vieles, an das ich mich nicht erinnern kann.«
Aber … Darius war in Deutschland. Das stimmte doch? Er sagte ihr nicht immer, wann er nach Hause kam. Offiziell lebten sie nur getrennt, aber in Wirklichkeit hatten sie nur noch Mikas gemeinsam. Konnte es Darius wirklich in den Sinn kommen, Mikas mit nach Deutschland zu nehmen? Oder nach Tauragė? Er hatte in Vilnius keine Wohnung, und sie bezweifelte, dass seine Saufkumpane, bei denen er sonst manchmal
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