Die Lieferung - Roman
Darius überlassen? Das war vor dem Sturz auf der Treppe gewesen, hatte Frau Mažekienė gesagt. Sigita konnte ein gewisses Angstgefühl nicht ganz loswerden. Was, wenn Darius Mikas nicht wieder hergeben wollte? Und wie war das auf der Treppe passiert? Er hatte sie nie geschlagen, nicht einmal bei ihren schlimmsten Streitereien. Sie konnte nicht glauben, dass er es jetzt getan hatte. Vielleicht ein Unfall? Eines aber war klar: Wenn es einen Menschen auf der Welt gab, der sie dazu bringen konnte, sich sinnlos zu betrinken, dann Darius.
Sie überlegte, ob sie mit einem Taxi nach Hause fahren sollte, aber die Jahre der Sparsamkeit waren nicht so leicht abzuschütteln. Der Bus fuhr fast unmittelbar vor der Tür ab. Anfangs, im Stadtzentrum von Vilnius, war er noch voll, doch ihr Gipsarm verhalf ihr zu einem Sitzplatz, den sie dankbar annahm. Trotzdem wurde ihr inmitten der dichten Menschenmenge übel, so dass sie Sorge hatte, sich übergeben zu müssen. Eine Haltestelle noch, sagte sie sich selbst. Wenn es dann nicht besser ist, steige ich aus und nehme ein Taxi. Aber der Bus wurde leerer, je weiter sie aus dem Zentrum kamen. Der Hauptverkehrsstrom wälzte sich in die andere Richtung. Als
sie endlich in der Žemynos gatvė ausstieg, musste sie sich erst an der Haltestelle auf die Bank setzen und in der frischen Luft tief durchatmen, ehe sie weitergehen konnte.
Sie klingelte bei Frau Mažekienė, bevor sie in ihre eigene Wohnung ging.
»Oh, da sind Sie ja, liebste Freundin. Wie schön, Sie wieder auf den Beinen zu sehen. Was für eine Geschichte!«
»Ja. Frau Mažekienė, ich muss Sie etwas fragen. Wann hat Darius Mikas geholt?«
»Am Samstag. Es ist ja schrecklich, dass Sie sich an nichts erinnern können.«
»Wann am Samstag?«
»Gegen Mittag, glaube ich. Ja, ich hatte gerade gegessen, als ich die beiden sah.«
»Die beiden? War er in Begleitung?«
Frau Mažekienė biss sich auf die Lippe, als meinte sie, zu viel gesagt zu haben.
»Äh, ja, da war noch eine Frau …«
Sigita versetzte es einen Stich, obgleich es letzten Endes sie gewesen war, die ihn vor die Tür gesetzt hatte, und nicht umgekehrt. Natürlich gab es eine andere Frau. Was hatte sie denn gedacht?
»Wie sah sie aus?«, fragte sie, für den unwahrscheinlichen Fall, dass es sich um Darius’ Schwester oder Mutter handelte.
»Hübsch. Groß und blond, und schick gekleidet. Nicht so ein billiges Flittchen«, sagte Frau Mažekienė.
Dann war es sicher nicht Darius’ Schwester, dachte sie.
Dann kam ihr plötzlich ein anderer Gedanke. Eine hübsche Frau? Groß und jung? Natürlich gab es davon viele auf der Welt, aber …
»Erinnern Sie sich daran, was sie getragen hat?«
»Einen hellen Mantel. Ich glaube, das war so ein Popelinemantel. Und einen Schal.«
Die Frau vom Spielplatz. Die, die selbst gerne Kinder hätte … Sigita wurde eiskalt. Wenn Darius nun eine Freundin hatte, die sich nach Kindern sehnte … sie erinnerte sich an das Glitzern des Schokoladenpapiers und an Mikas’ verschmierte Wangen. Sie hatte sich richtig angebiedert. Sie hatte sie beobachtet, vor allem Mikas, und hatte sich sein Vertrauen mit verbotener Schokolade erkauft. Vielleicht war es doch kein russischer Akzent, sondern ein deutscher gewesen. Irgend so eine Irmgard, die er dort aufgegabelt hatte, wo er jetzt arbeitete.
»Aber Schätzchen … ist Ihnen schlecht?«
»Nein«, sagte Sigita verbissen, obgleich ihr die Übelkeit schon ganz weit oben im Hals steckte. »Aber ich sollte jetzt besser gehen und mich einen Moment hinlegen.«
Die Wohnung sah im Großen und Ganzen so aus wie immer. Sauber, weiß und modern, Lichtjahre entfernt von der Hemdenhölle in Tauragė. Sogar Mikas’ Spielzeug stand sorgsam aufgereiht vor dem Regal. Nur ein Fremdkörper störte die Symmetrie: Auf dem Küchentisch stand eine leere Wodkaflasche und glotzte sie an.
Sie warf sie in den Mülleimer. Hatten sie sie betrunken gemacht? Sie konnte einfach nicht glauben, dass sie Darius und seiner deutschen Flamme Mikas einfach so anvertraut hatte. Freiwillig.
Ihr Handy klingelte.
»Sigita, wo zum Henker bleibst du? Dobrovolskij kommt in einer halben Stunde, und wir brauchen die Zahlen!«
Es war Algirdas. Algirdas Janusevičius, die eine Hälfte von Janus Constructions, ihr unmittelbarer Chef.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich bin gerade erst aus dem Krankenhaus gekommen.«
»Krankenhaus?« Die Verärgerung war seiner Stimme noch
immer anzuhören, trotzdem gelang es ihm, ein wenig
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